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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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der Ferne, als ob irgendein dämlicher Soldat einen Gewehrschuss auf weiß Gott was abgibt (oder weiß Gott wen), und in diesem Augenblick schießt es mir durch den Kopf.
    In diesem Augenblick schießt es mir durch den Kopf: einfach nur davonzukommen, ist zu wenig.
    Am Leben zu bleiben ist zu wenig.
    Sie werden Katz und Maus mit mir spielen, solange ich es mir gefallen lasse.
    Und vielleicht ist sie ja irgendwo da draußen.
    Vielleicht ist sie heute Nacht da draußen.
    Ich werde sie suchen.
    Ich werde die erstbeste Gelegenheit beim Schopf packen und sie suchen.
    Und wenn ich sie gefunden habe …
    Dann fällt mir auf, dass Bürgermeister Ledger aufgehört hat zu schnarchen.
    Deshalb frage ich in die Dunkelheit hinein: »Wolltest du was sagen?«
    Aber er schnarcht schon wieder, und sein Lärm ist grau und verschwommen, und ich frage mich, ob ich mir das alles nur eingebildet habe.

10
    Im Haus des Allerhöchsten
    (VIOLA)
    »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut.«
    Ich rühre die Tasse Wurzelkaffee, die er mir anbietet, nicht an.
    »Bitte, Viola«, sagt er und hält sie mir hin.
    Ich nehme sie. Meine Hände zittern immer noch.
    Seit letzter Nacht haben sie nicht aufgehört zu zittern.
    Seit ich gesehen habe, wie sie zu Boden fiel.
    Zuerst auf die Knie, dann der Länge nach auf den Kies.
    Ihre Augen waren noch offen.
    Offen, aber sie sahen nichts mehr.
    Ich stand daneben, als sie fiel.
    »Sergeant Hammar wird seine Strafe erhalten.« Der Bürgermeister setzt sich mir gegenüber. »Was er getan hat, war strikt gegen meine Befehle.«
    »Er hat sie umgebracht«, sage ich mit tonloser Stimme. Sergeant Hammar hat mich zum Haus der Heilung geschleppt, mit dem Gewehrkolben an die Tür gehämmert, hat alle Frauen aus dem Schlaf gerissen und sie weggeschickt, um Maddys Leichnam zu holen.
    Ich habe kein Wort hervorgebracht, ich konnte nicht mal richtig weinen. Sie haben mich keines Blicks gewürdigt, die Heilerinnen, die Gehilfinnen. Nicht einmal Mistress Coyle hat mir in die Augen geschaut.
    Was hast du dir nur dabei gedacht? Was um alles in der Welt hattest du mit ihr vor?
    Und dann hat mich Bürgermeister Prentiss am Morgen hierherbestellt, in seine Kathedrale, in sein Haus, in das Haus des Allerhöchsten.
    Und von da an haben sie mich wirklich nicht mehr angeschaut.
    »Es tut mir leid, Viola«, sagt er. »Manche Männer in Prentisstown, im alten Prentisstown, hegen immer noch einen Groll gegen Frauen wegen der Dinge, die seinerzeit geschehen sind.«
    Er bemerkt meinen entsetzten Blick. »Die Geschichte, die du zu kennen glaubst«, sagt er, »ist nicht die wahre Geschichte.«
    Ich starre ihn an. Er seufzt. »Auch in Prentisstown wurde gegen die Spackle gekämpft, und es war entsetzlich, aber Männer und Frauen standen damals Seite an Seite.« Er legt seine Fingerspitzen zusammen, seine Stimme klingt immer noch ruhig, immer noch freundlich. »Aber dann kehrte Zwietracht ein in unseren kleinen Vorposten, sogar nachdem wir gesiegt hatten. Zwietracht zwischen Männern und Frauen.«
    »Das kann man wohl sagen.«
    »Sie haben ihre eigene Armee aufgestellt. Sie haben sich abgespalten, sie haben den Männern, deren Gedanken sie lesen konnten, misstraut. Wir haben versucht sie zur Vernunft zu bringen, aber schließlich wollten sie Krieg. Und den haben sie bekommen.«
    Er richtet sich in seinem Stuhl auf und sieht mich traurig an. »Auch eine Armee, die aus Frauen besteht, ist eine Armee. Eine Armee, die Gewehre hat, um zu töten.«
    Ich höre meinen eigenen Atem. »Ihr habt eine nach der anderen getötet.«
    »Das habe ich nicht«, widerspricht er. »Viele Frauen sind im Kampf gestorben. Als die anderen erkannten, dass der Krieg verloren war, streuten sie das Gerücht, wir hätten sie ermordet, und dann töteten sie sich selbst, damit die Männer zum Untergang verdammt waren.«
    »Ich glaube Euch kein Wort«, sage ich, denn ich erinnere mich, dass Ben uns etwas ganz anderes erzählt hat. »So war es nicht.«
    »Ich war dabei, Viola. Ich erinnere mich viel deutlicher, als mir lieb ist.« Er schaut mir in die Augen. »Ich bin auch derjenige, dem am meisten daran gelegen ist, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Verstehst du mich?«
    Mein Magen krampft sich zusammen und ich kann nicht anders, ich fange an zu weinen. Ich muss daran denken, wie Maddys Leichnam nach Hause gebracht wurde. Wie Mistress Coyle mich zwang, Maddy für das Begräbnis vorzubereiten. Sie wollte, dass ich ganz genau hinsah. Sie wollte, dass ich

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