Das dunkle Paradies
aus.«
»Und wer sind diese anderen Heilerinnen, mit denen sie sich getroffen hat?« Wieder legt er die Fingerspitzen gegeneinander. »Was, meinst du, haben sie vor?«
Ich starre in meine Kaffeetasse und frage mich, woher er das weiß.
»Und vor allem, was haben sie mit dir vor?«, fragt er weiter.
Ich sehe ihn noch immer nicht an.
Er steht auf. »Komm bitte mit.«
Er führt mich zur Vorderseite der Kathedrale. Die Türen zum Stadtplatz stehen weit offen. Draußen übt die Armee, im Gleichschritt zu marschieren, und das Wumm , Wumm, Wumm ihrer Stiefel schallt herein, begleitet vom Dröhnen der Männer, die nun keine Arznei mehr erhalten.
»Schau dorthin«, fordert der Bürgermeister mich auf. Neben den Soldaten, mitten auf dem Platz zimmern Männer ein Holzgerüst, obendrauf ist ein Pfosten mit einem Querbalken.
»Was ist das?«
»Dort wird morgen Nachmittag Sergeant Hammar wegen des entsetzlichen Verbrechens, das er begangen hat, hingerichtet.«
Die Erinnerung an Maddy und ihre starren, leblosen Augen schnürt mir die Brust zu und ich muss die Hand vor den Mund pressen.
»Ich habe den alten Bürgermeister der Stadt verschont«, sagt er, »nicht aber einen lang gedienten, mir treu ergebenen Hauptmann.« Er schaut mich an. »Glaubst du wirklich, ich würde zu solchen Mitteln greifen, nur um einem Mädchen eine Freude zu machen, weil es etwas weiß, was für mich nützlich sein könnte? Glaubst du wirklich, ich würde solchen Ärger auf mich nehmen, wenn ich, wie du glaubst, allein das Sagen hätte?«
»Warum tut Ihr es dann?«, frage ich ihn.
»Weil er das Gesetz übertreten hat. Weil wir in einer zivilisierten Welt leben, in der Barbarei nicht geduldet wird. Weil der Krieg zu Ende ist.« Er blickt mich an. »Und ich wünschte mir, du könntest Mistress Coyle davon überzeugen.« Er kommt ganz nahe heran. »Wirst du das tun? Wirst du ihr wenigstens erzählen, was ich tue, um dieser schlimmen Situation ein Ende zu bereiten?«
Ich schaue auf meine Fußspitzen. Meine Gedanken wirbeln durcheinander, rasen wie Meteore.
Was er sagt, könnte stimmen.
Aber Maddy ist tot.
Und ich bin schuld daran.
Und Todd ist noch immer verschwunden.
Was soll ich machen?
(Was soll ich nur machen?)
»Wirst du das tun, Viola?«
Insgeheim denke ich: Wenigstens habe ich neue Informationen für Mistress Coyle.
Ich schlucke. »Ich werde es versuchen.«
Er lächelt. »Wunderbar.« Er nimmt mich sanft am Arm. »Lauf jetzt zurück. Du wirst beim Begräbnis gebraucht.«
Ich nicke und gehe hinaus auf die Eingangsstufen, weg von ihm, ein paar Schritte auf den Platz hinaus, und das Dröhnen schlägt mir so unbarmherzig entgegen wie das Sonnenlicht. Ich bleibe stehen und ringe nach Luft, einer Luft, die sich mir entziehen will.
»Viola«, sagt er und blickt mir von den Stufen seiner Kathedrale aus nach. »Warum essen wir beide morgen Abend nicht zusammen?«
Er grinst, denn er weiß, wie schwer es mir fällt, mir nicht anmerken zu lassen, wie ungern ich komme.
»Todd wird natürlich auch da sein«, fügt er hinzu.
Ich reiße die Augen auf. Wieder wird meine Brust ganz eng, wieder kommen mir die Tränen, und ich bin so überrascht, dass ich Schluckauf bekomme. »Wirklich?«
»Wirklich«, sagt er.
»Im Ernst?«
»Ganz im Ernst«, antwortet er.
Und dann breitet er seine Arme nach mir aus.
11
Hab dir das Leben gerettet
[TODD]
»Wir müssen sie nummerieren«, sagt Davy. Er holt einen großen Leinwandsack aus dem Lagerschuppen des Klosters und lässt ihn geräuschvoll ins Gras fallen. »Das ist unser neuer Job.«
Es ist der Morgen nach dem Tag, an dem mir der Bürgermeister nachträglich zum Geburtstag gratuliert hat, der Morgen nach dem Tag, an dem ich feierlich geschworen habe, sie zu finden.
Aber alles ist so wie immer.
»Sie nummerieren?«, frage ich und schaue auf die Spackle, die uns wie immer anstarren mit einem Schweigen, aus dem ich nicht schlau werde. Inzwischen hat die Arznei doch sicherlich aufgehört zu wirken? Weshalb dann nummerieren?
»Hörst du Pa denn nie zu?«, fragt Davy und kramt Werkzeuge aus dem Sack hervor. »Jeder muss wissen, wo er hingehört. Und außerdem, irgendwie müssen wir ja den Überblick über diese Tiere behalten.«
»Es sind keine Tiere, Davy«, sage ich, nicht allzu hitzig, denn wir haben uns über diesen Punkt schon oft gestritten. »Sie sind einfach anders.«
»Wie auch immer, Schweinebacke«, antwortet er, holt einen Bolzenschneider aus der Tasche und wirft ihn ins Gras. Dann
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