Das dunkle Paradies
will.
»Nichts ist mehr wie früher«, sagt sie leise.
»Das kann man laut sagen.«
»In Haven war es besser«, fährt sie fort. »Es war zwar auch nicht gerade wie im Paradies, aber es war besser als jetzt.«
Und sie schaut weiter aus dem Fenster.
Als ich meine Runde beendet habe, bin ich hundemüde, trotzdem setze ich mich auf mein Bett und hole den Zettel hervor, den ich immer bei mir trage. Ich lese ihn zum hundertsten, tausendsten Mal.
Mein Mädchen,
jetzt ist die Zeit gekommen, da du dich entscheiden musst.
Können wir auf dich zählen?
Die Antwort
Kein Name, nicht einmal ihr Name.
Seit beinahe drei Wochen habe ich diesen Zettel. Drei Wochen und nichts ist passiert. Sie scheinen also nicht gerade auf mich zu zählen. Keine andere Mitteilung, kein weiteres Lebenszeichen, ich sitze hier in diesem Haus mit Corinne – besser gesagt mit Mistress Wyatt, wie ich sie nun anreden muss – und den Patientinnen fest. Es sind Frauen, die krank geworden sind, aber es sind auch Frauen unter ihnen, die von den Leuten des Bürgermeisters über die Antwort befragt wurden, Frauen mit blauen Flecken und Schnittverletzungen, Frauen, denen man die Rippen gebrochen hat, die Finger, die Arme. Frauen, deren Körper Brandwunden aufweisen.
Und dabei können sie noch von Glück sagen, sie sind ja nicht im Gefängnis.
Und an jedem dritten, vierten Tag: Wumm! Wumm! Wumm!
Dann werden noch mehr Frauen festgenommen und noch mehr werden hierhergeschickt.
Und kein Wort von Mistress Coyle.
Und kein Wort vom Bürgermeister.
Kein Wort darüber, warum man mich hier allein gelassen hat. Man sollte meinen, ich wäre die Erste, die verhaftet wird, die Erste, die man von einem Verhör zum nächsten schleppt, die Erste, die in einer Gefängniszelle verrottet.
»Aber nichts«, flüstere ich. »Nichts.«
Und kein Lebenszeichen von Todd.
Ich schließe die Augen. Ich bin viel zu erschöpft, um irgendetwas zu spüren. Jeden Tag suche ich nach einer Möglichkeit, zum Turm zu kommen, aber jetzt wimmelt es überall von Soldaten, es sind so viele, dass ich nicht herausfinden kann, nach welchem Plan sie patrouillieren, und mit jeder neuen Bombe, die explodiert, wird es nur noch schlimmer.
»Ich muss etwas unternehmen«, sage ich laut vor mich hin. »Ich muss, sonst werde ich verrückt.« Ich lache. »Ich werde verrückt und fange an, Selbstgespräche zu führen.«
Ich lache lauter, dabei ist es gar nicht lustig.
Da klopft es an mein Fenster.
Mit laut pochendem Herzen setze ich mich auf.
»Mistress Coyle?«, frage ich.
Ist es jetzt so weit?
Ist dies der Augenblick, in dem ich mich entscheiden muss?
Können sie auf mich zählen?
(Aber ist das nicht Lärm, was ich da höre …)
Ich knie mich aufs Bett und ziehe den Vorhang zurück, gerade einen Spaltbreit, sodass ich hinausschauen kann, und ich bin darauf gefasst, ihr Stirnrunzeln zu sehen, wie sie sich mit den Fingern über die Stirn streicht.
Aber sie ist es nicht.
Nein, ganz und gar nicht.
»Todd!«
Ich reiße den Fensterriegel auf und schiebe das Glasfenster hoch, er beugt sich herein, und sein Lärm ruft meinen Namen, und ich umarme ihn und hole ihn zu mir herein, zerre ihn buchstäblich hoch und ziehe ihn durchs Fenster, und er klettert, und wir fallen auf mein Bett, und ich liege auf dem Rücken und er liegt auf mir, und mein Gesicht ist ganz nahe an seinem, und ich muss daran denken, dass es genau so war, damals, als wir unter dem Wasserfall hindurchgesprungen sind, Aaron war uns dicht auf den Fersen, und ich habe ihm tief in die Augen geblickt.
Und ich wusste, wir waren in Sicherheit.
»Todd.«
Im beleuchteten Zimmer sehe ich, dass sein Auge blutunterlaufen ist, und auf seiner Nase ist ebenfalls Blut. »Was ist passiert? Bist du verletzt?«
Doch er sagt nur: »Du bist es.«
Ich weiß nicht, wie lange wir einfach so daliegen und nur spüren, dass der andere wirklich da ist, wirklich und wahrhaftig, dass er tatsächlich lebt. Ich fühle mich sicher bei ihm, ich spüre sein Gewicht auf mir, spüre seine rauen Finger in meinem Gesicht, seine Wärme, seinen Geruch, rieche den Staub in seinen Kleidern, wir sprechen kaum ein Wort, und sein Lärm schäumt über vor Gefühlen und verzwickten Sachen, er denkt daran, wie auf mich geschossen wurde, wie ihm zumute war, als er glaubte, ich würde sterben, und was er jetzt spürt, wenn er mich mit seinen Fingerspitzen berührt, aber vor allem denkt er nur eines: Viola, Viola, Viola.
Und es ist Todd.
Verdammt noch mal, es ist
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