Das dunkle Paradies
ich und wiederhole dabei nur die Worte des Bürgermeisters. »Wir haben mehr als doppelt so lange dafür gebraucht.«
Er dreht sich zu mir, sein Lärm wird blutrot. »Sie haben uns angegriffen! Ist das etwa meine Schuld?«
»Das hab ich nicht gesagt«, verteidige ich mich, aber durch meinen Lärm geistert 0038, dem er das Band um den Hals gelegt hat.
»Also gibst auch du mir die Schuld daran, was?« Davy hat sein Pferd angehalten und funkelt mich an. Er sitzt weit nach vorne gebeugt im Sattel, bereit, jeden Moment mit einem Satz runterzuspringen.
Ich mache den Mund auf, will antworten, aber dann blicke ich an ihm vorbei auf die Straße, die wir entlanggekommen sind.
An einer Wegbiegung zum Fluss stehen zwei Scheunen.
Blitzschnell drehe ich mich wieder zu Davy um.
Er grinst böse. »Was ist dort unten?«
»Nichts.«
»Dein Mädchen, nicht wahr?«, fragt er höhnisch.
»Verpiss dich, Davy.«
»Nein, Schweinebacke«, sagt er und rutscht aus dem Sattel, sein Lärm ist jetzt noch hitziger. »Verpiss du dich.«
Darauf gibt’s nur eine Antwort: Prügel.
»Soldaten?«, fragt mich Bürgermeister Ledger, als er bei meiner Rückkehr die blauen Flecken und das bereits angetrocknete Blut sieht.
»Geht dich nichts an«, knurre ich. Es war die schlimmste Prügelei, die sich Davy und ich seit ewigen Zeiten geliefert haben. Ich bin so zerschlagen, dass ich kaum ins Bett komme.
»Isst du das noch?«, fragt Bürgermeister Ledger.
Ein bestimmtes Wort in meinem Lärm sagt ihm: Nein, ich will nichts mehr essen. Er nimmt meinen Teller und fängt an zu mampfen, ohne auch nur Dankeschön zu sagen.
»Hast du vor, dich bis zur Freiheit durchzufressen?«, frage ich.
»Fragt ein Junge, der immer an einem gedeckten Tisch gesessen hat.«
»Ich bin kein Junge.«
»Die Lebensmittel, die wir dabeihatten, als wir hier gelandet sind, haben nur ein Jahr lang gereicht«, erzählt er zwischen zwei Bissen. »Und damals waren wir mit dem Jagen und dem Feldbau noch nicht so weit, wie wir hätten sein sollen.« Er schiebt sich den nächsten Bissen in den Mund. »In mageren Zeiten lernt man eine warme Mahlzeit zu schätzen, Todd.«
»Warum müssen Männer einen ständig belehren?« Ich lege den Arm übers Gesicht, aber ich ziehe ihn gleich wieder weg, weil mein blutunterlaufenes Auge höllisch wehtut.
Es wird wieder Nacht. Die Luft ist sogar noch kühler, und ich behalte fast alle meine Kleider an, als ich unter die Bettdecke krieche. Bürgermeister Ledger beginnt zu schnarchen, er träumt, dass er durch ein Haus mit endlosen Zimmerfluchten geht und er den Ausgang nicht findet.
Das ist die sicherste Zeit, um an sie zu denken.
Ist sie wirklich dort draußen?
Und hat sie etwas mit dieser Antwort , oder wie immer es heißt, zu tun?
Und mit den anderen Dingen?
Was würde sie sagen, wenn sie mich jetzt sähe?
Wenn sie sähe, was ich tagtäglich mache?
Und mit wem ich das mache.
Ich sauge die frische Nachtluft ein und blinzle gegen meine feuchten Augen an.
(Stehst du noch zu mir, Viola?)
(Wirklich?)
Eine Stunde ist vergangen und ich bin immer noch hellwach. Etwas geht mir nicht aus dem Kopf, ich wälze mich in meinem Bett hin und her, versuche alles aus meinem Lärm zu verbannen, versuche ruhig zu werden, damit ich bereit bin für die neue Aufgabe, die der Bürgermeister uns für morgen zugedacht hat, eine Aufgabe, die, wenn ich ehrlich bin, gar nicht so übel zu sein scheint.
Aber irgendwie fehlt da noch was, etwas Wichtiges.
Irgendetwas.
Ich setze mich auf und höre zu, wie Bürgermeister Ledger schnarcht, höre auf das schlaftrunkene Dröhnen von New Prentisstown, auf die Vögel, die in der Nacht zwitschern, ich höre sogar den Fluss, der in der Ferne vorbeirauscht.
Es hat nicht Tschack! gemacht, als Mr Collins die Tür hinter mir schloss.
Ich versuche mich zu erinnern.
Ganz bestimmt nicht.
In der Dunkelheit schaue ich zur Tür.
Er hat vergessen, sie abzuschließen.
Das ist die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe.
Die Tür ist nicht abgeschlossen.
16
Wer du bist
(VIOLA)
»Ich höre Lärm draußen«, sagt Mrs Fox, als ich ihren Krug Wasser für die Nacht nachfülle.
»Alles andere wäre auch ein Wunder.«
»Direkt vor dem Fenster …«
»Soldaten, die eine Zigarette rauchen.«
»Nein, ich bin sicher, es war …«
»Nichts für ungut, Mrs Fox, aber ich bin gerade wirklich sehr in Eile.«
Ich schüttle ihre Kissen auf und leere ihre Bettpfanne aus. Sie schweigt, bis ich fast fertig bin und gehen
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