Das dunkle Schweigen: Denglers zweiter Fall (German Edition)
den Betten gegenüber, sie waren eingeschaltet, liefen jedoch ohne Ton.
Sie hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Ihr Gesicht war blass und ihr Mund eingefallen, wie bei einer Greisin, die ihr Gebiss herausgenommen hatte. Besaß seine Mutter ein Gebiss? Er wusste es nicht.
Sie trug ein hellbeiges Nachthemd.
Wann habe ich meine Mutter zuletzt im Nachthemd gesehen?
Er konnte sich nicht erinnern.
Nie .
Sie war immer als Erste aufgestanden. Dann der Vater, und später hatte sie ihn geweckt. Resolut.
Sie kam in mein Zimmer und riss das Fenster auf, klappte die Läden zurück und ließ Helligkeit und kalte Luft ins Zimmer.
»Aufstehen, Georg – Gott hat dir einen neuen Tag geschenkt«, das hatte sie jeden Tag gesagt.
Später konnte ich diese Phrase einfach nicht mehr ertragen.
Wenn sie ihn wecken kam, hatte sie schon die Kühe gemolken und den Kaffee gekocht.
Sie hat mir das frühe Aufstehen beigebracht.
Nach dem Tod seines Vaters frühstückte er jeden Morgen zusammen mit seiner Mutter. Sie erzählte ihm von den Kühen, von Erlebnissen des letzten Tages. Jeden Morgen. Georg schwieg.
Ich rede heute noch morgens ungern.
Und jeden Morgen wollte sie von ihm wissen, was sie zu Mittag kochen sollte. Auch diese Frage hatte er gehasst.
Sie kochte doch ohnehin immer das, was sie sich ausgedacht hatte.
Um ihrem Redefluss zu entgehen, hatte Georg sich früh in seine innere Welt zurückgezogen. Flog als Pilot durch die Welt. Raubte als Pirat die Schiffe der Weltmeere aus.
Und lernte lesen.
Um selbst am frühen Morgen nicht reden zu müssen, hatte er auf die Buchstaben der Caro-Kaffee-Dose gestarrt, so lange, bis er sie auswendig konnte. Dann fragte er seine Mutter nach der Bedeutung der Buchstaben. Mehr sagte er nie.
Meine erste Morgenlektüre: die Caro-Kaffee- oder die Kathreiners-Dose. Nur um nicht reden zu müssen.
Und die Angaben auf der Köllnflocken-Packung konnte ich auch bald lesen.
Später, wenn ihre Schwestern mit ihren Männern zu Besuch kamen und sie beim Kaffee saßen oder nach dem Mittagessen die ersten Underberg aufgeschraubt hatten, rief sie ihn manchmal:
»Hol mal die Kathreiners-Dose.«
Er rannte dann in die Küche und kam mit der Dose zurück.
»Jetzt lies uns mal was vor.«
»Kinder werden gesund und kräftig durch Kathreiners.«
Georg drehte die Dose ein wenig, um besser lesen zu können: »Kathreiners Kneipp-Malzkaffee.«
Onkel Peter wollte es nicht glauben. Er nahm die Dose, nahm die Brille ab und las selbst laut vor.
»Tatsächlich«, brummte er dann.
Sah seinen Neffen an und schüttelte den Kopf.
»Der wird nochmal Pfarrer, wenn das so ein schlaues Kerlchen ist«, sagte er und zog seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche. Meist gab er ihm einen Groschen.
Und zu den anderen Onkels sagte er: »Jetzt gebt dem Buben doch auch mal was. Der muss doch schon mal die Kollekte üben, wenn er später Pfarrer ist.«
Seine Mutter strahlte vor Stolz.
* * *
Nun liegt sie mit geschlossenen Augen vor ihm in einem
Nachthemd, das aussieht wie ein Leichenhemd, und atmet
kaum noch.
Sie war so froh, dass ich Polizist wurde.
»Georg, bist du's?«, stöhnt sie leise.
Mit geschlossenen Augen.
»Ja, Mutter. Ich bin's.«
»Ich muss aufs Klo.«
»Ich rufe die Schwester. Warte einen Augenblick.«
»Nein.«
»Kannst du allein gehen?«
»Bring du mich. Ich mag keine wildfremden Leute.«
Wie leise ihre Stimme klingt.
Ihre rechte Hand hängt an dem Tropf. Deshalb zieht sie mit
der linken langsam die Decke zur Seite.
Das Nachthemd ist ihr fast bis zur Hüfte hochgerutscht. Ihm ist, als sieht er ihre Beine zum ersten Mal. Sie sind dünn, ihre weißlich gelbe Hautfarbe wirkt auf ihn abstoßend. Das welke Fleisch hängt von ihrem Oberschenkelknochen herab. Als sie sich aus dem Bett schwingt, gibt das Nachthemd ihm für einen kurzen Moment den Blick auf ihre nahezu kahle Scham frei.
Alles in ihm drängt danach, sofort aus dem Zimmer zu fliehen. Doch sie steht schon neben ihm und hält sich mit der linken Hand an der Stange des fahrbaren Tropfes fest. Mit der anderen Hand sucht sie seinen Arm.
Sie ist deine Mutter, hört er Olgas Stimme flüstern.
Er nimmt behutsam ihre linke Hand, und sie hakt sich unter.
Langsam führt er sie um das Bett herum, auf den Gang des
Krankenzimmers und zu der Tür der Toilette.
Die wenigen Schritte haben sie erschöpft.
Vor der Toilettenschüssel zieht sie das Nachthemd hoch, als wäre er nicht da. Und setzt sich.
Als sie drückt, zieht sich ihr
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