Das dunkle Schweigen: Denglers zweiter Fall (German Edition)
Gesicht schmerzhaft zusammen. Er weiß nicht, was sie peinigt, aber er hält ihr die Hand.
Er will davonlaufen. Er will seine Mutter nicht nackt sehen, den alten, abgearbeiteten Körper will er nicht sehen, und trotzdem geht er neben ihr in die Hocke, spricht zu ihr mit Worten, die er selbst nicht für möglich hielt. Dieser einfache natürliche Vorgang ist für die alte Frau mit peinigenden Schmerzen verbunden, mit Schmerzen, die so stark sind, dass sie die Scham vor ihrem einzigen Sohn verliert, und die sie so sehr martern, dass auch er alle Scham vergisst.
Als sie es endlich erledigt hat, wäscht er sie mit einem feuchten Waschlappen und bringt sie wieder hinüber in ihr Bett. Sie stöhnt laut, als sie sich ausstreckt.
* * *
Georg Dengler blieb eine Woche in Altglashütten. Er stand früh auf und half Frau Willmann in der Pension. Zweimal am Tag fuhr er mit dem Zug hinüber ins Krankenhaus, und am Abend ging er früh zu Bett. Im Fernsehen sah er, dass die Parteien den Gipfel zur Arbeitslosigkeit dazu benützt hatten, die Steuern für Unternehmen zu senken, genau, wie Leopold Harder es vorhergesagt hatte. Manchmal rief er abends Olga an. Sie ermunterte ihn, bei seiner Mutter zu bleiben und sie zu versorgen. Er sprach mit ihr über seine Scham, den ausgemergelten Körper seiner Mutter nackt zu sehen, und ihr Zuhören half ihm mehr in diesen Tagen, als ihm bewusst war.
Erst als seine Mutter in die Reha-Klinik nach Radolfzell gebracht wurde, reist er aus Altglashütten ab. Als er in Freiburg in den ICE stieg, bemerkte er, dass kein Schnee mehr auf dem Bahnhof lag. Die Sonne schien. Der Frühling war da.
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44. Am Abend
Am Abend waren alle seine Freunde im Basta versammelt. Martin Klein thronte am Kopfende des großen Tisches, Olga saß zwischen ihm und Leopold Harder, der ihnen mit großen Gesten irgendwelche farbigen Tabellen erläuterte. Olga schaute konzentriert zu und unterbrach ihn hin und wieder mit einer Zwischenfrage. Klein schüttelte zuweilen den Kopf und füllte die Gläser nach.
Georg Dengler blieb an der Bar stehen und sah zu ihnen hinüber.
Dies ist nun meine Familie, dachte er, und ein Gefühl tiefer Dankbarkeit durchflutete ihn.
Olga ist schöner denn je.
Als sie für einen Augenblick hochschaute, sah sie ihn an der Bar stehen. Sie lachte und winkte ihm, sprang auf, kam zu ihm und küsste ihn auf die Wange. Dann nahm sie seine Hand und führte ihn an den Tisch zu seinen Freunden. Der kahlköpfige Kellner hatte schon ein weiteres Glas gebracht, und Klein schenkte ihm einen Grauen Burgunder ein.
Dengler setzte sich, nahm einen Schluck, und dann erzählte er von seiner Mutter: Ja, es geht ihr besser. Sie ist nun in einer Reha-Klinik. Dort wird sie mindestens vier Wochen bleiben. Vielleicht auch sechs.
»Das passt ja sehr gut«, sagte Martin Klein.
»Wir haben nämlich was für dich«, platzte Olga heraus. »Etwas mit Verfallsdatum«, sagte Leopold Harder mit geheimnisvoller Stimme.
Dengler sah seine Freunde erstaunt an.
»Hokuspokus Fidibus«, sagte Olga, »schau mal in der Innentasche deines Jacketts nach.«
»Meines Jacketts?«
Georg Dengler griff verblüfft in die Innentasche und zog einen weißen Umschlag heraus, von dem er nicht wusste, wie der dorthin gekommen ist.
»Komm, mach's auf«, rief Olga aufgeregt.
Dengler riss den Umschlag auf und zog ein Ticket heraus. Stuttgart-Chicago. Für zehn Tage.
»Das – das kann ich nicht annehmen«, sagt er, aber seine Freunde lachten ihn aus, und Martin Klein erhob das Glas.
»Auf Chicago!«
»Und die Milliardärsparty«, flüsterte Olga so leise, dass Georg es nicht hören konnte.
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45. Sweet Home Chicago
Come on, baby don't you want to go
Come on, baby don't you want to go
To the same old place, sweet home Chicago
Now, one and one is two, two and two is four
I'm heavy loaded baby, I'm booked, I gotta go
Cryin' baby, honey, don't you want to go
Back to the same old place, my sweet home Chicago
Come on, baby don't you want to go
Come on, baby don't you want to go
To the same old place, sweet home Chicago
Der Airbus zog eine große Kurve über den Michigan-See und nahm Kurs auf den O'Hare International Airport im Norden von Chicago.
Der große Turm, direkt am See, das musste der Hancock Tower sein, weiter hinten, der noch größere, konnte nur der Sears Tower sein. Chicago Downtown lag unter ihm. Die Downtown mit den imposanten Hochhäusern machte nur einen Bruchteil der riesigen Stadt aus. Tatsächlich
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