Das Dunkle
Er mochte es nicht, wenn etwas (oder jemand) seine Bewegungen behinderte.
„Ihr habt’s gehört?“, sagte er zwischen zwei Bissen.
„Ja.“ Dess ließ den Blick durch die Cafeteria schweifen, die sich allmählich mit drängelnden Körpern und Kantinengerüchen anfüllte. „Und sie sind eindeutig nicht da.“ Sie seufzte und sah die beiden an. „Okay, ich schätze, ich bin es, die den Anruf machen muss. Habt ihr Kleingeld?“
Jessica kramte in ihrer Tasche und fand eine einzelne Münze, den Vierteldollar, den sie vor zwei Nächten hochgeworfen hatte. Sie hatte ihn mit sich herumgetragen, in der Hoffnung, er könnte irgendwann Glück bringen. Bisher hatte er nur Probleme mit sich gebracht.
Dess schnappte ihn ihr aus der Hand und stapfte davon, ohne sich zu bedanken.
Jessica sah zu, wie ihr langes schwarzes Kleid ärgerlich hinter ihr herschwappte, bis sie in der Menge untergetaucht war.
„Weshalb ist sie so mürrisch?“
Jonathan zuckte mit den Schultern, als ob das auf der Hand liegen würde. „Wegen mir und dir. Rex und Melissa. Und dann ist da noch Dess.“ Er biss in einen Apfel.
„Stimmt, kann sein.“ Jessica konnte ihm nicht widersprechen, obwohl sie sich in dem Moment fragte, ob es sich lohnte, auf Jonathan und sie eifersüchtig zu sein. Sie hatte ihren Physiktest versaut, ein Stalker war hinter ihr her, und Rex und Melissa waren zwischen Gerüchten über Blut und Zerstörung um Mitternacht verschwunden. Trotzdem saß Jonathan hier, fraß wie der Teufel und, wie immer in der normalen Zeit, berührte sie nicht.
In der geheimen Stunde passierte es fast automatisch –
Fingerspitzen, die sich aufeinandertrafen, der leichte Druck, mit dem Schulter an Schulter lehnte, oder Arme, die sich verschränkten. Aber bei Tag schien Jonathan nicht zu wissen, wozu Körperkontakt gut sein sollte. Als ob er nicht gemerkt hätte, dass das Leben nicht nur aus Fliegen bestand.
Trotzdem, sagte sich Jessica, war es nicht so, als ob sie ihn nicht bei der Hand nehmen könnte, jetzt gleich. Einfach zupacken und festhalten. Wie peinlich war das? Einfach darauf zu warten, dass er etwas tat, und ihn dafür zu hassen, dass er ihre Gedanken nicht las?
Wenn sie aber die Hand nach ihm ausstrecken und er seine zurückziehen würde, dann wäre das allerdings eine echt große Scheiße.
Sie seufzte und kam sich egoistisch vor, weil sie sich solche Gedanken machte, obwohl Rex und Melissa verschwunden waren. Etwas Schreckliches war gestern Nacht passiert, und nicht weit von den Badlands entfernt. Sie konnte des Bild der zwölf blutigen Messer in einer Tür nicht loswerden. Den Gerüchten zufolge waren keine Leichen gefunden worden, aber ließen die Darklinge Leichen zurück, wenn sie … taten, was auch immer sie taten?
„Du glaubst also immer noch, du hast ihn verhauen?“
„Was? Ach so.“ Jessica stöhnte, als ihr wieder einfiel, was sie wegen der Gerüchte vergessen hatte. „Physik. Ich weiß , dass ich ihn verhauen habe. Bei den Formeln habe ich eine komplette Niete gezogen. Und bei den Gesetzen. Eben einfach bei Physik.“
Jonathan lächelte immer noch. Er sauste durch den Stoff, bei den Gesetzen der Bewegung so sicher wie Dess bei Zahlen.
„Die Zusatzfrage musst du aber geschafft haben.“
„Nein. Ich bin nicht so weit gekommen.“
Jonathan lachte. „Über das, was passiert, wenn du eine Münze in die Luft wirfst? Nenne drei Gründe, warum sie nie stehen bleibt, sogar am höchsten Punkt nicht?“
Jessica sah ihn nur an und seufzte.
„Bei Melissa geht niemand dran. Und Rex’ Dad ist drangegangen. Konnte nichts aus ihm rauskriegen. Rex hat wahrscheinlich seine Pillen verdoppelt.“ Dess setzte sich nicht, verschränkte bloß die Arme vor der Brust und sah auf sie hinab.
„Der gute Vierteldollar ist verschwendet.“
„Was hat Rex’ Dad eigentlich?“, fragte Jessica. „Das ist so traurig, wenn man ihn so sieht.“
Jonathan räusperte sich.
„Traurig, der?“, schimpfte Dess. „Vor dem Unfall war alles viel trauriger.“
„Was meinst du damit?“
Dess zog ein unwirsches Gesicht. „Na ja, das ist alles passiert, bevor ich Rex kennengelernt habe. Ich weiß aber, dass er nicht unbedingt der weitbeste Dad war.“
„Ach. Trotzdem. “ Jessica dachte an den Spuckefaden am Kinn des alten Mannes und den verlorenen Blick in seinen Augen.
Dess schüttelte ihren Kopf. „Nein, ehrlich. Spar dir dein Mitleid. Frag Rex bei Gelegenheit nach den Spinnen unter dem Haus.“ Sie wandte sich an Jonathan.
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