Das Dunkle
„Hast du heute das Auto von deinem Vater?“
„Genau.“
„Liegt heute Nachmittag irgendwas Wichtiges an?“
Jonathan hielt einen Moment inne, dann schüttelte er seinen Kopf. Seufzend packte er den Rest seines Sandwichs in die Lunchtüte und schob seinen Stuhl zurück.
„Was? Jetzt sofort?“, fragte Jessica und riss sich von den Gedanken an Rex’ Dad los. „Wir schaffen es aber niemals, vor der fünften Stunde wieder hier zu sein.“
„Äußerst tragisch“, sagte Dess. „Falls du aber nicht mitkommen willst, kannst du Mr Sanchez mein tief empfundenes Bedauern übermitteln. Er guckt immer so traurig, wenn ich Trig ausfallen lasse.“
Jonathan legte Jessica die Hand auf die Schulter, endlich berührte er sie. „Willst du nicht mitkommen?“
„Äh …“ Jessica wollte schon, konnte aber nicht ignorieren, wie die Furcht in ihren Bauch sackte. Das Bild von blutbefleckten Messern triumphierte über einer Vision der grimmigen Gesichter ihrer Eltern, wenn sie in Hausarreststimmung waren. „Ich kann nicht.“
„Ist schon gut, Jess. Wir sagen dir Bescheid.“ Er drückte ihre Schulter sanft. „Wir sehen uns heute Nacht.“
Sie wandten sich um und gingen. Jessica blieb allein zurück.
dessometrien
12.14 Uhr mittags
10
Dess blickte während der Fahrt verstohlen auf ihr neues Spielzeug. Die schwankenden Zahlen beruhigten ihre Nerven, erinnerten sie daran, dass es zu jedem Problem eine Lösung gab, jede vermisste Person irgendwo war und zu jedem Fleck auf der Erde eine herrliche Kombination aus Koordinaten gehörte.
Ihr schwirrte noch immer der Kopf vom Wochenende.
Während sich die anderen in irgendwas hatten reinziehen lassen, hatte sie sich amüsiert. Sie war den ganzen Sonntag durch Bixby geradelt und hatte zugesehen, wie der GPS-Empfänger mühelos Koordinaten runterratterte und Bixby in Zahlen verwandelte. Besser konnte es nicht gehen.
Dess hatte ihr ganzes Leben hier verbracht, aber zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, als ob sie die Stadt wirklich kennen würde. Sie konnte ihr Muster erkennen, konnte die Straßen und Gebäude im Kopf aufzeichnen. Die Welt, in der sie aufgewachsen war, war endlich inventarisiert und durchgezählt worden. Und Dess war es, die das Zahlenwerk erledigt hatte.
In der Zwischenzeit hatten die anderen das Wochenende damit verbracht, sich ausspionieren zu lassen, zu versuchen, die Spione auszuspionieren, und sich von Darklingen in die Ecke drängen zu lassen. So was schien immer dann zu passieren, wenn sie sie aus den Augen ließ.
„Was ist das für ein Ding?“, fragte Jonathan und schielte auf den GPS-Empfänger in ihrer Hand.
Schnell verbarg sie das Gerät vor seinem Blick. „Nichts.“
Er kicherte nur und biss in sein drittes Sandwich. „Okay.“
Sie bogen bei Rex in die Straße ein, die ziemlich genau nach Osten führte, und Dess sah zu, wie sich die Nord-Süd-Zahlen allmählich stabilisierten und die Ost-West-Zahlen langsam abfielen. Nach diesem Besuch würde sie für ihr eigenes und für Rex’ Haus über die genauen Koordinaten verfügen. Vielleicht ergab die Anordnung der Häuser, in denen die Midnighter wohnten, ein Muster.
Der Wagen hielt, und Dess zwang sich, den Empfänger in ihrer Manteltasche verschwinden zu lassen. Sie würde Rex schon bald in ihre Entdeckungen einweihen, sie wollte die Berechnungen aber sicher im Kopf haben, bevor er sie mit seiner wirren Lehre über den Haufen warf. Mathe war eindeutig, während es in der Geschichte von verrückten kleinen Lücken und Widersprüchen nur so wimmelte.
Die abgewrackte Veranda war leer, der gruselige alte Dad nirgendwo in Sicht. Vielleicht hielt ihn Rex seit Neustem im Haus.
Auf halber Strecke über den verdörrten Rasen schallte eine krächzende Stimme aus dem Haus: „Wisst ihr verfluchten Gören nicht, dass heute ein Schultag ist?“
Sie zuckte zusammen, dann entdeckte sie Rex’ Gesicht hinter der Fliegentür im Eingang. Keine schlechte Kopie seines Vaters, musste sie zugeben. Gut genug, um ihr einen Schauder über den Rücken laufen zu lassen.
Er trat durch die Tür, lachend, weil er sie erschreckt hatte.
Melissa folgte ihm, und Dess löste ihre Hand von dem GPS-Empfänger in ihrer Tasche und nahm sich vor, nicht an das Gerät zu denken. Mitten im Trubel der Bixby Highschool war Melissas Gedankenleserei ungefähr so sinnlos wie ein Mobiltelefon am Fuße des Grand Canyon. Aber hier draußen in der dünn besiedelten Vorstadt würde Dess ihre Gedanken im Zaum halten müssen.
„Was
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