Das Echo aller Furcht
vernachlässigte Autobahn war eine einzige Baustelle. Typisch – die Gegenfahrbahn war bereits erneuert. Aus dem Augenwinkel sah er Hunderte von BMWs und Mercedes’ in Richtung Berlin brausen - die Kapitalisten aus dem Westen eroberten zurück, was unter einem politischen Verrat zusammengebrochen war.
Bock nahm bei Greifswald die nächste Ausfahrt und fuhr durch Chemnitz. Das Straßenbauprogramm hatte die Nebenstraßen noch nicht erreicht. Nachdem er in ein halbes Dutzend Schlaglöcher gefahren war, hielt Bock an und studierte die Karte. Nach drei Kilometern und mehreren Abzweigungen erreichte er eine ehemalige Akademikersiedlung. In der Einfahrt des Hauses, das er suchte, stand ein Trabant. Natürlich war der Rasen gepflegt, und das Haus machte bis hin zu den Gardinen einen ordentlichen Eindruck – schließlich war das hier Deutschland -, aber es herrschte eine eher spürbare als sichtbare Atmosphäre des Verfalls und der Depression. Bock parkte eine Straße weiter und ging zu Fuß zurück zum Haus.
»Ist Herr Dr. Fromm zu sprechen?« fragte er die Frau, vermutlich Fromms Gattin, die an die Tür kam.
»Wen darf ich melden?« fragte sie steif. Sie war Mitte Vierzig, ihre Haut spannte sich straff über die hohen Backenknochen, während um ihre glanzlosen blauen Augen und ihre verkniffenen, blassen Lippen zu viele Falten lagen. Nun musterte sie den Mann vor der Tür mit Interesse und vielleicht auch ein wenig Hoffnung. Obwohl Bock nicht wußte, was sie sich von ihm erwarten mochte, nutzte er die Gelegenheit.
»Einen alten Kollegen«, sagte Bock lächelnd. »Darf ich ihn überraschen?«
Nach kurzem Zögern schaute sie freundlicher. »Bitte kommen Sie herein.«
Bock wartete im Wohnzimmer und erkannte, daß sein erster Eindruck richtig gewesen war – aber der Grund dafür traf ihn hart. Das Innere des Hauses erinnerte ihn nämlich an seine Wohnung in Berlin. Auch hier war das Mobiliar Sonderanfertigung, das im Vergleich zu dem, was normalen DDR-Bürgern zur Verfügung gestanden hatte, so elegant gewesen war. Jetzt aber beeindruckte ihn das nicht mehr besonders. Vielleicht liegt es an dem Kontrast zum Mercedes, dachte Bock, als er Schritte hörte. Aber nein. Es lag am Staub. Frau Fromm hielt ihr Haus nicht so sauber, wie es sich für eine gute deutsche Hausfrau gehörte. Ein sicheres Anzeichen, daß etwas nicht stimmte.
»Bitte?« sagte Dr. Fromm, und dann weiteten sich seine Augen, als er Bock erkannte. »Du? Schön, dich wiederzusehen!«
»Schön, daß du dich an deinen alten Freund erinnerst«, erwiderte Bock lachend und streckte die Hand aus. »Es ist lange her, Manfred.«
»Allerdings, Junge! Komm mit in mein Arbeitszimmer.« Die beiden zogen sich unter dem neugierigen Blick von Frau Fromm zurück. Dr. Fromm schloß die Tür, bevor er sprach.
»Das mit deiner Frau tut mir sehr leid. Grauenhaft!«
»Das ist nun Vergangenheit. Wie geht’s dir?«
»Mies. Die Grünen haben sich auf uns eingeschossen. Der Laden wird dichtgemacht.«
Dr. Manfred Fromm war auf dem Papier der stellvertretende Direktor des AKW Lubmin Nord. Die zwanzig Jahre alte Anlage vom sowjetischen Typ WER 230 war zwar primitiv, aber dank einer kompetenten deutschen Bedienungsmannschaft durchaus konkurrenzfähig. Wie alle sowjetischen Modelle aus dieser Zeit produzierte der Reaktor Plutonium und war, wie Tschernobyl demonstriert hatte, weder besonders sicher noch leistungsstark, bot aber den Vorteil, nicht nur 816 Megawatt, sondern auch spaltbares Material für Bomben zu erzeugen.
»Die Grünen«, wiederholte Bock leise. »Diese Chaoten.« Die Grünen waren eine natürliche Konsequenz des deutschen Nationalcharakters, der einerseits vor allem, was lebt, Ehrfurcht hat und andererseits dazu neigt, dies zu töten. Die Anti-Partei hatte sich aus den extremen oder konsequenten Elementen der Umweltbewegung gebildet und Kampagnen geführt, die auch im Ostblock Mißmut erregten. Es war ihr zwar nicht gelungen, die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa zu verhindern – dazu hätte es eines Abkommens bedurft, das diese Waffen auf beiden Seiten eliminierte –, aber sie kämpfte nun erfolgreich in der ehemaligen DDR. Die Grünen waren vom Kampf gegen die katastrophale Umweltverschmutzung im Osten geradezu besessen, und ganz oben auf ihrer Liste standen die Atomkraftwerke, die sie als unglaublich unsicher bezeichneten. Bock rief sich ins Gedächtnis, daß den Grünen schon immer eine straffe politische Organisation gefehlt hatte und
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