Das Echo der Flüsterer
Rücken. Der Abgrund, an dessen Rand die Burg stand, schien noch tiefer zu reichen als die gegenüberliegende Felswand. Jonas konnte bestenfalls dessen wirkliche Tiefe erahnen, weil der Grund in Dunkel getaucht war. Auf Dunnottar Castle hatte es einen Hexenkerker gegeben – schnell richtete Jonas wieder den Blick auf das Burgtor –, aber es war auch der Hort der Kroninsignien. Du musst Keldins Spiegel finden! Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung, von dem finsteren Schlund weg und hin zu etwas weniger Unheimlichem.
Keldins Burg verfügte über einen doppelten Mauerring. Als Jonas durch das leere Tor ritt – die hölzernen Flügel existierten schon seit Jahrhunderten nicht mehr –, musste er zunächst einen schmalen Torbau durchqueren, der in einem zweiten Bogen mündete. Ein verrostetes Gitter lag auf dem Boden, das irgendwann irgendwer aus seiner Verankerung gerissen hatte.
Im Burghof herrschte völlige Stille. Selbst der Wind schien hierher nicht vordringen zu wollen. Jonas blickte zu den verlassenen Gebäuden auf, die wie die Ringsteine von Stonehenge den zentralen Burgplatz umstellten. In der Nähe gab es einen Brunnen, dessen steinerne Umfriedung nur noch aus einzelnen Bruchstücken bestand. Wenn Keldins dritter Spiegel wirklich noch existierte und er irgendwo an diesem deprimierenden Ort lag, dann konnte es Tage dauern, bis Jonas ihn fand.
»Wo fangen wir an zu suchen, mein Guter?«, fragte er laut. Seine Stimme hallte seltsam dumpf von den Wänden wider.
»Ook, ook, oook.«
»Da hast du vermutlich Recht.«
Plötzlich sah er den Turm. Natürlich war das halb verfallene Bauwerk schon die ganze Zeit da gewesen, doch Jonas hatte ihm nicht mehr Bedeutung zugemessen als all den anderen Ruinen hier. Jetzt aber erinnerte er sich, dass die Bergfriede in den Burgen des Mittelalters oft die letzte Zufluchtsstätte gewesen waren, wenn fremde Eroberer schon all die anderen Verteidigungslinien niedergerannt hatten.
Mit leisem Klicken bewegten sich Trojans Tatzen über das steinerne Pflaster auf den Turm zu. Jonas blickte nachdenklich auf das dunkle Eingangstor. Auch hier gab es kein Türblatt mehr. Nur einige Reste der eisernen Beschläge lagen noch auf dem Boden herum. Im Innern des Turms konnte er eine steinerne Treppe erkennen. Er neigte den Kopf weit zurück und blickte an der Außenmauer empor. Das trutzige Bauwerk bestand aus runden Findlingen, die man offenbar in mühsamer Arbeit auf die Klippe geschafft hatte. Wenn der Spiegel noch da war, dann musste er dort oben sein, hundertzwanzig Fuß über seinem Kopf, davon war Jonas überzeugt.
Er stieg von Trojans Rücken. »Du bleibst hier und schlägst Alarm, sobald dir irgendetwas verdächtig vorkommt.«
»Ook, ook, oook.«
Vorsichtig betrat Jonas den Turm. Er sah sich wachsam nach allen Seiten um, aber da war nichts, was irgendeine Gefahr für ihn bedeuten konnte. Der unterste Raum des Wehrturms hatte wohl früher einmal den Wachen als Stube gedient. Auf dem Boden lagen ein verrostetes Schwert und vier oder fünf Speerspitzen, deren Schäfte längst von Holzwürmern zerfressen worden waren.
Bevor er seinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, lauschte er in das dunkle Gemäuer hinauf. Irgendwo da oben musste sich der Wind verfangen haben und pfiff nun wie eine verzweifelte Kreatur, die ihre Freiheit zurückhaben wollte. Sonst war nichts zu hören.
Das erste Stockwerk besaß mehrere Nischen an den Außenwänden und sogar einen Tisch aus Sandstein. Erstaunlich war die Feuerstätte links vom Treppenaufgang: Es handelte sich um einen echten Kamin mit gemauertem Schornstein. Früher hatten hier sicher einmal Stühle und Bänke gestanden. Vielleicht hingen Felle an den Wänden und schmückten Teppiche den Boden. Vermutlich war diese Etage einmal ein durchaus gemütlicher Koch- und Wohnplatz gewesen. Jetzt jedoch wirkte er nur noch leer und trostlos. Jonas verscheuchte die Bilder seiner Phantasie und nahm den Aufstieg zum nächsten Stockwerk in Angriff.
Dem Kaminzimmer folgten nach oben noch mindestens fünf weitere Räume – Jonas zählte nicht mit. Im Notfall hatte dieser wuchtige Turm bestimmt hunderten Schutz gewähren können. Vermutlich war dies anfangs sogar das einzige Wohngebäude für Keldin und seine Getreuen gewesen; die Häuser im Burghof dürften erst später errichtet worden sein. Auf ähnliche Weise – das wusste Jonas – waren nach und nach auch viele Burgen und Schlösser auf der Erde entstanden. Wie Zwiebeln hatten sie
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