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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Schicht um Schicht zugelegt.
    In den Wänden von zwei der runden Räume klafften große Löcher, alte Wunden, die Jonas schon aus der Ferne bemerkt hatte. In den übrigen Zimmern jedoch herrschte ein bedrückendes Halbdunkel, weil die Lichtöffnungen eher schmalen Schießscharten glichen als freundlichen Fenstern, die man gerne mit Blumentöpfen geschmückt hätte. Die engen Mauerdurchbrüche besaßen die Form eines Sterns: Von einem männerfaustgroßen Loch in der Mitte strahlten mehrere Schlitze nach außen ab.
    Jonas hatte soeben eine weitere, besser ausgeleuchtete Etage erklommen. Freudig sah er zu dem Licht hinauf, das durch die rechteckige Treppenöffnung in der Decke fiel. Er atmete erleichtert auf. Gleich würde er im obersten Turmzimmer sein. Wenn er seinen bisherigen Beobachtungen trauen durfte, dann musste es darüber noch ein begehbares Dach geben. Allerdings war dort die mit Zinnen bewehrte steinerne Brüstung etwa zur Hälfte eingestürzt. Wenn es nicht unbedingt nötig war, dann wollte sich Jonas das windige Erlebnis eines Aufstiegs ins Freie ersparen.
    Gerade setzte er seinen Fuß auf die erste Stufe zum nächsten Stockwerk, als er zu seiner Rechten ein Flattern hörte. Erschrocken fuhr Jonas herum und sah gerade noch einen winzigen schillernden Vogel aus einer Wandnische schießen und durch eine der sternförmigen Lichtöffnungen entschwinden. Sein Blick blieb noch eine ganze Weile am Fenster hängen. Es war alles so schnell gegangen, aber… Nachdenklich massierte er sich den linken Unterarm. Er hätte schwören können, dass er dem kleinen gefiederten Hasenfuß schon einmal begegnet war. Sein erster Marsch durch die Spiegelregion lag erst eine Woche zurück, aber es kam ihm vor wie sieben Jahre.
    Endlich konnte sich Jonas von dem Fensterschlitz losreißen. Seine Augen wanderten zu der Wandnische, die der bunte Flüchtling so eilig verlassen hatte. Er wusste, dass einige Vögel durch dieses Verhalten ihre Brut schützten. Ein hungriger Räuber würde eher dem ausgewachsenen Tier nachstellen als nach einem Gelege suchen.
    Langsam ging Jonas auf die hohe schmale Vertiefung in der Wand zu. Er verstand sich zu gut auf die Eigenheiten der Tiere, um ein Nest oder gar Jungvögel anzurühren, aber wenigstens einen Blick auf die Kinderstube wollte er werfen.
    Die Nische war höchstens so breit wie Jonas’ Hand und etwa viermal so hoch. Enttäuscht stellte er fest, dass sie leer war – mit einer Ausnahme: In der Höhlung stand ein schmales irdenes Gefäß.
    Der zylinderförmige Behälter war so mit Staub bedeckt, dass er Jonas anfangs gar nicht aufgefallen war. Behutsam nahm er ihn aus der Nische. Erst hielt er ein Ohr an die Öffnung und dann schielte er mit einem Auge hinein. Die Röhre schien nichts zu enthalten.
    Schon wollte er den Zylinder wieder zurück in die Nische stellen, als er daraus ein Schaben vernahm. Er hielt die rechte Hand auf und kippte die Röhre mit der linken um. Sogleich rutschte ein länglicher Gegenstand heraus. Jonas traute seinen Augen nicht.
    Seine Finger umschlossen einen Kristalldolch von einzigartiger Schönheit. Jonas war von der Waffe völlig hingerissen. Selbst als er den leeren Zylinder wieder in die Nische zurückschob, konnte er den Blick nicht von dem glitzernden Meisterstück nehmen. Diese Unachtsamkeit forderte ihren Tribut. Die Tonröhre kam ins Kippen und ehe er noch reagieren konnte, stürzte sie krachend zu Boden. Bestürzt sah er, was er da angerichtet hatte. Die Scherben lagen weit über den ganzen Steinboden verstreut.
    Irgendwie hatte Jonas das Gefühl, ein Sakrileg begangen zu haben. Schuldbewusst blickte er wieder auf den kühlen Gegenstand in seiner rechten Hand.
    Der Dolch war einfach unbeschreiblich! Aus einem einzigen Kristallstück gearbeitet, besaß er eine gerade Klinge mit zwei Schneiden. Seine Länge entsprach ungefähr der halben Höhe des zerschlagenen Zylinders, in dem er, wer weiß wie lange, gelegen haben musste. Jonas erinnerte sich an Kraarks Schilderungen von Keldins großer Kunstfertigkeit. Der Schmied war der Letzte des Kleinen Volkes, der wusste, wie man den blauen Kristall bearbeitete. Jonas’ Augen wurden immer größer. Konnte es sein, dass es sich hierbei bereits um den »Spiegel« handelte?
    Tatsächlich war die Waffe, nachdem Jonas sie erst einmal am Ärmel seiner Jacke abgewischt hatte, spiegelblank. Die durchscheinende Klinge hatte den Querschnitt einer Raute, vom Griff zur Spitze hin flacher werdend. Obgleich der größte Teil

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