Das Echo der Flüsterer

verflucht ist. Womöglich habt ihr nur Angst vor etwas, was ihr nicht kennt! Bestimmt ist es ziemlich öde da oben.«
    »Warum sorgst du dich dann, allein auf die Klippe zu steigen?«
    Jonas seufzte. »Weil ich mich vermutlich genauso vor dem Unbekannten fürchte wie ihr auch.«
    »Deine Ehrlichkeit zeichnet dich aus, mein Freund.«
    »Leider fehlt’s mir etwas an Mut.«
    »Wir werden die Klippe umstellen, Jonas. Sollte irgendjemand hinaufwollen, um dir in den Rücken zu fallen, muss er erst die stärksten Wölfe des Zwiewaldes überwinden. Du solltest dich also nicht sorgen.«
    Jonas nickte. Ein wenig hatten ihn Minuqs Worte schon beruhigt. Aber er hätte sich dennoch gewünscht nicht mutterseelenallein diesen Felsen erklimmen zu müssen.
     
     
    Wieder ein Pass. Und wieder ein Ausblick, der Jonas fast den Atem raubte. Als Keldins Klippe langsam in Sicht rückte, beschlich ihn eine ungute Vorahnung. Zwischen der Passhöhe und der Klippe lagen ungefähr zwei Meilen kristallklare Luft. Der nackte Felsen wirkte seltsam nah. Angesichts der grünen Berge, die hinter Jonas lagen, haftete diesem Ort etwas Unheimliches an. Warum nur hatte Keldin sich einst diesen Ort zu seiner neuen Heimat erwählt? Jonas wusste zwar nicht viel von den Bonkas, aber dieser Stamm des Kleinen Volkes war für ihn bisher ein Inbegriff der Lebensfreude gewesen. Die Bonkas liebten Farben, Harmonie, den Frieden.
    Na, Frieden mochte es ja auf dieser einsamen grauschwarzen Klippe noch geben. Sie erschien Jonas wie eine uneinnehmbare Zufluchtsstätte. Vielleicht war es ja gerade die Sicherheit gewesen, die der Schmied vor so vielen Jahrhunderten gesucht hatte.
    Die Burg wirkte erstaunlich klein. Sie ragte wie ein hochgereckter Daumen vom Ende eines stetig ansteigenden Grates auf. Unter ihr gab es nichts als Leere. Ihre äußere Mauer war die direkte Verlängerung von viertausend Fuß senkrecht abfallenden Felsgesteins.
    Je länger Jonas die Klippen betrachtete, desto mehr schienen sie ihm einem ausgestreckten Arm mit einer Faust zu ähneln. Die Burg – der Daumen – stand nämlich am Rand eines Felsenringes, der an die aufeinander liegenden Finger einer halb geschlossenen Hand erinnerte. Es gab zwei Klüfte, die jeden Angreifer allein durch ihre schiere Höhe abhalten mussten: zum einen das erwähnte, steil abfallende Ende des Bergrückens und zum anderen das Innere der gigantischen »Faust«. Letzteres würde Jonas erst später in voller Ausdehnung sehen, doch schon aus dieser Entfernung war ihm klar, dass Keldin und seine Gefährten eines ganz gewiss gewesen waren: schwindelfrei.
    Hätte die Bergformation die Gestalt eines Kegels besessen, hätte Jonas ohne Frage auf einen Vulkan getippt, so aber grübelte er beim Abstieg in das Tal darüber nach, was wohl ein derart riesiges Loch in den Berg getrieben haben konnte. Erst als die Bäume ihm die Sicht auf das Schwindel erregende Bauwerk nahmen, konnte er wieder an etwas anderes denken.
    Die Wölfe liefen in einem lockeren Verband durch den Wald. Sie waren überall zu sehen und doch als Gesamtheit schwer zu erfassen. Trojan bewegte sich in ihrer Mitte mit einer erstaunlichen Sicherheit. Nur Jonas fühlte, wie angespannt sein treues Schelpin in Wirklichkeit war. Minuq unterrichtete ihn davon, dass er zwei seiner erfahrensten Wölfe als Kundschafter vorausgesandt hatte. Er wolle sicher sein, dass sich in dieser Gegend keine Malkits herumtrieben.
    An diese Möglichkeit hatte Jonas noch gar nicht gedacht. Kanthelm war für ihn eine schwer fassbare Bedrohung. Allem Anschein nach hatte der Malkit die Brücke über die große Schlucht so präpariert, dass sie unter den Bonkas und ihren Gefährten zusammenbrechen musste. Jonas war davon ausgegangen, dass Kanthelm sich dann zurückgezogen hatte, weil er sein Ziel für erreicht hielt. Doch Minuqs Äußerung stellte alles wieder auf den Kopf.
    Als erneut der Aufstieg begann, suchten Jonas’ Augen unablässig nach irgendwelchen Anzeichen von Leben. Aber er sah nichts weiter als einige Vögel und die Wölfe, die ihn begleiteten.
    Die beiden Kundschafter erwarteten sie am Beginn eines breiten Geröllfeldes. Nachdem sie Talinka und Minuq Bericht erstattet hatten, erfuhr auch Jonas, wie die Lage stand: Im Umkreis von einer Meile schien der kahle Felsen gänzlich verlassen zu sein. Selbst die Tiere mieden offenbar diesen Ort. Es war, als stünde die Burg auf einem Totenschädel.
    »Wie beruhigend«, knurrte Jonas, nachdem Minuq die Beobachtungen der