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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bemerkt, was dieses Menschenkind auszeichnete: Jonas besaß eine Art natürliche Glaubwürdigkeit, eine Anziehungskraft, der man sich schwer entziehen konnte. »Das hat der Junge von seinem Vater geerbt«, pflegte Großvater anzumerken, wenn er sich mit Großmutter Rose über den stillen Jungen unterhielt. Sie nickte dann immer, schüttelte anschließend den Kopf und erwiderte: »Aber Robert war nicht so mit der Natur verwachsen wie Jonas.« Bei solchen Gelegenheiten erzählte sie dann gerne die Geschichte, die im Frühling »nach dem Absturz der Kinder« spielte.
    Jonas hatte in einem Babystuhl draußen auf der schattigen Veranda gesessen, als plötzlich ein helles Schreien ins Haus gedrungen war. Rose hatte ihr Geschirrtuch fallen lassen und war besorgt ins Freie gestürzt, in der Annahme, irgendein Tier hätte den Jungen erschreckt. Wie verwundert war sie dann jedoch, als sie Jonas in bester Laune vorfand, umgeben von einer Schar Kolibris. Die Summvögel umschwärmten ihn wie sonst nur die Tränken mit Zuckerwasser, die eigens für sie im Garten aufgehängt waren. Klein Jonas quietschte vor Vergnügen, strampelte mit den Beinchen und wedelte mit den Ärmchen. Ab und zu versuchte er eines der vor ihm in der Luft schwebenden Vögelchen zu greifen, aber obwohl sie das nicht zuließen, konnte seine Begeisterung sie auch nicht verscheuchen. Erst als Großvater sich der seltsamen Szene näherte, schwirrten die Vögel davon.
    Seit diesem Tage bewahrte Großmutter Rose die Erkenntnis im Herzen, dass ihr Enkel eine angeborene Gabe besaß, deren äußeres Merkmal sein enges Verhältnis zur Natur darstellte. Sie begriff nicht völlig, worin diese Begabung wirklich bestand, aber sie war überzeugt, dass jene Eigenschaft einen bestimmten wichtigen Grund haben musste. Je älter Jonas wurde, desto deutlicher zeigte sich, dass die Tiere ihm Vertrauen entgegenbrachten. Er schien ihnen das Gefühl zu vermitteln, einer der ihren zu sein. Allmählich lernte er auch deren »Sprache« zu sprechen. Großvater erklärte Besuchern seiner Alligatorenfarm gerne: »Niemand begreift so schnell, was ein Tier fühlt oder was es ausdrücken will, wie mein Enkel.«
    Jonas besaß eine schwer zu beschreibende Gelassenheit, eine innere Ruhe, die ihn – abgesehen von der Sehnsucht nach den verschwundenen Eltern – vollkommen ausfüllte. Sie machte ihn fähig zuzuhören, wo andere sich von ihren Bedürfnissen und Sorgen ablenken ließen. Wenn zwei sich stritten, musste er bisweilen nur in deren Nähe kommen, sie ansehen, und schon erstarb die Auseinandersetzung. Oder wenn jemand von innerer Unruhe geplagt wurde, ohne recht zu wissen warum, dann reichte es, dass Jonas einfach nur stumm dasaß und zuhörte, und schon ging es dem anderen wieder besser.
    Wäre Jonas nicht so viel allein in den Sümpfen herumgestreift (was ihn für manchen zum Eigenbrötler machte), hätten sicher viel mehr Menschen diese für sein Alter ungewöhnlich ausgeglichene Wesensart bemerkt und sich zu ihm hingezogen gefühlt. So wie Lydia, als sie noch bei ihm war…

 
    DER SPRECHENDE KAKTUS
     
     
     
    Jonas stand plötzlich vor der asphaltierten Straße, unsicher und verwirrt. Die Erinnerung an jene dramatischen Ereignisse vor vier Jahren ließen ihn nur langsam wieder los. Er sah auf die Uhr. Schon elf! Seit über sieben Stunden kämpfte er sich jetzt bereits abseits der bequemen Pfade durch die Sumpflandschaft. Er beschloss, seinen Marsch direkt auf der State Road 9336 fortzusetzen. Nur wenige Fahrzeuge befuhren die kleine Straße, die meisten von ihnen in Richtung Westen, wo sich das Besucherzentrum des Everglades National Park befand. Es war Mittwoch, der 3. Oktober. Die Monate, in denen die Moskitoschwärme ab, die der Touristen dafür zunahmen, begannen also gerade erst.
    Die Gefahr, dem General vor die Kühlerhaube zu laufen, war noch nicht gebannt, aber Jonas’ Füße verlangten einfach nach besseren Marschbedingungen. Sie brannten wie Feuer. Großvater würde auf seiner Suche wohl nicht gerade jetzt hier vorbeikommen.
    Hinter der Straßenbiegung ertönte ein viel versprechendes Röhren, das rasch lauter wurde. Jonas streckte den Arm aus, der Daumen zeigte in die Höhe. Als das Auto hinter den Pinien auftauchte, erstarrte er.
    Ein graublauer Ford Pick-up kam heran, vierundfünfziger Baujahr – Großvater fuhr genau den gleichen Wagen. Jonas war unfähig sich zu bewegen. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Bloß wie? Sich in die Büsche zu schlagen

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