Das Echo der Flüsterer
besonderes Gewicht hatte. Möglicherweise bin ich daran schuld, dass so viele dich als einen Außenseiter angesehen haben. Dabei wollte ich nur, dass du nicht so wirst wie die Menschen während meiner Jugend.«
Jonas nickte ernst. »Großvater hat mir davon erzählt. Es muss wirklich schlimm gewesen sein.«
»Sarah?« Darinas Stimme war nicht mehr als ein sanfter Hauch.
Jonas’ Mutter sah zu der Wissenden hinüber. »Ja?«
»Wir werden uns heute Abend, wenn erst der Große Rat zusammengekommen ist, viel zu berichten haben. Dürfte ich dich aber zuvor darum bitten, uns eure Geschichte zu erzählen? Dein Sohn ist ein so besonderer Mensch! Er hat mich aus einem todesähnlichen Schlaf erweckt. Er kann mit den Tieren sprechen. Er vermag sogar verwelkte Blumen wieder zum Erblühen zu bringen und toten Vögelchen neues Leben einzuhauchen. Das alles ist nicht nur eine Gabe des Sinnsteins. Die Bilme fördern stets nur Talente, die ohnehin vorhanden sind. Bestimmt möchte jeder in diesem Kreis gern erfahren, warum Jonas ein so mutiger und, wie du sagst, ein so anderer Mensch geworden ist.«
Sarah sah die Gefährten des Jungen einen nach dem anderen an. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Erlebnisse, die so tief in ihren Erinnerungen begraben lagen, noch einmal hervorholen sollte. Selbst Kraark und die beiden Wölfe blickten sie erwartungsvoll an.
Sie holte tief Atem, seufzte, lächelte dann in die Runde und sagte: »Also gut. Wenn Jonas euch vertraut, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als es ebenfalls zu tun. Schließlich habt ihr meinen Sohn zu mir gebracht. Dafür stehe ich auf ewig in eurer Schuld.«
»Ich möchte nicht, dass du es so siehst.«
»Schon gut, Darina. Ich werde euch meine Geschichte erzählen. Damit ihr versteht, warum Jonas geworden ist, wie er ist, müssen wir weit in die Zeit vor seiner Geburt zurückgehen, in jene Jahre, als ich selbst noch ein Kind war.«
SARAHS GESCHICHTE
Sie hatte sich ihr ganzes Leben lang nach Geborgenheit gesehnt. Nur undeutlich erinnerte sie sich noch an die Zeit, als ihre Eltern mit ihr und den beiden jüngeren Brüdern gespielt, sie umarmt, mit ihnen unbekümmert gelacht oder sie, wenn nötig, verständnisvoll getröstet hatten. Diese Vergangenheit erschien ihr heute wie ein langer warmer Sommer, den man noch Jahre später mit angenehmen Gefühlen verbindet, obwohl man seine einzelnen Tage längst vergessen hat. Einige wenige Momente dieser hellen und freundlichen Zeit hatten sich ihr jedoch unauslöschlich eingebrannt… Etwa damals, als sie, drei oder vier Jahre alt, auf dem Schoß ihrer Mutter saß und immer wieder neugierig nach dem herzförmigen Muttermal an deren Stirn tastete. Diese suchte sie daran zu hindern, indem sie Klein Sarah spielerisch in die knubbeligen Fingerchen biss und den, wie sie meinte, hässlichen roten Fleck immer wieder schnell mit den Haaren verdeckte. Die zumeist schwachen Erinnerungen an diese frühe Kindheit erschienen Sarah wie ein lichter, unwirklicher Traum, in dem alle Dinge von einer Aura der Wärme und Sicherheit umgeben waren. Danach zog eine dunkle Wolke über ihr Leben hinweg, die sich erst wieder lichten sollte, als Robert kam.
Bei der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 lebte sie in Asperg, einer kleinen Stadt nördlich von Stuttgart. Mit sieben Jahren hatte sie keine Ahnung, was es bedeutete, wenn ein Volk seine Geschicke in die Hände eines Menschen legte, der Visionen hatte und diese gerne mit anderen teilen wollte. Alle schienen schlichtweg begeistert von diesem kleinen dunkelhaarigen, schnauzbärtigen Mann, an dem das Mädchen überhaupt nichts Besonderes finden konnte. (Wie sie später erfuhr, gab es auch einige andere, denen es so ging, die sogar vor ihm warnten. Aber deren Stimmen gingen im allgemeinen Jubel unter; später sollten sie ganz zum Schweigen gebracht werden.)
Der »Führer«, wie der Schnauzbart von allen genannt wurde,
hatte die Rollen für sein Mysterienspiel schon frühzeitig verteilt. Sie waren sehr einfach angelegt, für jedermann klar zu unterscheiden. Er selbst spielte den »Messias«, den alleinigen Heilsbringer, was der in dem Stück immer wiederkehrende deutsche Gruß eindrucksvoll unterstrich. Das »Heil Hitler« ging vor allem dem strahlenden Helden – blond, blauäugig, immer im Recht (weil automatisch alles richtig war, was er tat) – leicht über die Lippen. Diese Rolle übernahm das so genannte »deutsche Volk«. Den Part des Schurken hatte der große
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