Das Echo der Flüsterer
in eine Nische, die sich links von der Tür befand. »Und das da ist Keldins zweiter Spiegel.«
Jonas war ganz durcheinander. Langsam, Augen und Mund vor Staunen geöffnet, ging er auf das kristallene Oval zu. Es hing in einem Gestell, das in der Wandnische stand. Die blau schimmernde Facette war in einen goldenen Rahmen eingefasst, der in Größe und Form demjenigen sehr ähnlich sah, den Jonas auf der Klippe entdeckt hatte. Eines jedoch unterschied diesen Spiegel deutlich von dem, der am Grunde des Felsenschlundes zerborsten lag.
»Er ist ja kaputt!«, entfuhr es Jonas. Er erinnerte sich an Darinas Worte.
Sein Vater lächelte. »Nicht kaputt. Vielleicht beschädigt, aber nicht zerstört.«
»Er funktioniert also noch?«
»Dieser Spiegel ist tatsächlich vor ungezählten Generationen in drei große Teile zersprungen, aber seit einigen Jahren dient er dem Zwieland als Fenster zur Menschenwelt.«
»Seltsam, dass Darina nichts davon wusste.« Jonas betrachtete nachdenklich die metallisch glänzenden Streben, mit denen die einzelnen Scherben des Spiegels zusammengehalten wurden wie die kleinen Scheiben eines Bleiglasfensters.
»Du erwähnst ihren Namen nun schon zum zweiten Mal«, mischte sich Sarah neugierig ein. »Ist das die Wissende, von der Numin gesprochen hat?«
Jonas nickte.
»Sie scheint einen großen Eindruck auf dich gemacht zu haben.«
»Warte erst, bis du sie selbst kennen lernst, Mutter!«
»Um auf deine Bemerkung zurückzukommen«, übernahm nun Robert wieder das Gespräch, »außerhalb des Zwielandes gilt nach den dortigen Legenden Keldins Spiegel wohl deshalb als verschollen, weil er jahrtausendelang in einer Höhle der Juwelenschlucht verborgen lag. Deine Mutter und ich fanden die Scherben, als wir nach Azon kamen. Aus dem goldenen Rahmen schlossen wir, dass wir etwas Besonderes gefunden hatten. Deshalb nahmen wir die Bruchstücke mit. Ich habe den Spiegel bald darauf repariert. Seit wir in Kalvar wohnen, wird er hier im Saal des Großen Rats aufbewahrt. Deine Mutter und ich wollten ihn eigentlich dem Rat übergeben, aber die Keldinianer glauben, dass nicht wir den Spiegel gefunden haben, sondern er uns. Ihrer Überzeugung nach sind wir ›die Erwählten, die den wahren Zweck des Spiegels erfüllen müssen‹, was immer sie auch darunter verstehen.«
Jonas bewunderte die feinen Verzierungen an dem Goldrahmen und die seltsame Tiefe des Spiegels. Er hatte das Gefühl weit hinab in einen blauen, grundlosen Teich zu blicken.
»Du musst ihn unbedingt Darina und den anderen zeigen!«, brach es jäh aus ihm hervor. Schlagartig war ihm bewusst geworden, dass in ihm die Hoffnung lag, von der die Wissende gesprochen hatte. Er erinnerte sich an jedes einzelne Wort, das sie im Großen Wald zu ihm gesagt hatte: Ich denke, dass es von großem Wert sein könnte, diese Weisen zu sprechen. Für uns alle hier, für die Menschen auf der Erde und für dich ganz besonders, Jonas. »Sie hat alles gewusst! Von euch, von dem zweiten Spiegel – alles! Die ganze Zeit über…«
V · I · E · R · T · E
F · A · C · E · T · T · E
DER ABGRUND
WIEDER VEREINT
Neugierig musterte Sarah die beiden Wölfe. Vor allem der eine, auf dessen Rücken ein großer Rabe saß, erregte ihre Aufmerksamkeit.
»Du hast wirklich außergewöhnliche Freunde«, sagte sie zu ihrem Sohn.
Nach der Begrüßung hatten Robert, Numin, Bergalf und Lischka einen großen Tisch im Garten aufgebaut, um den nun alle versammelt waren. Robert hatte Numin anschließend in die Stadt gesandt, um so schnell wie möglich die Ältesten des Großen Rats zusammenzurufen. Es gab viel zu besprechen.
Mehr noch als die Wölfe hatte Darina die zwei Weisen zum Staunen gebracht. Ihre Ähnlichkeit mit Lydia Gustavson war unübersehbar. Jedoch verhielt sich die Wissende so gar nicht wie ein unbedarftes Mädchen, das die meiste Zeit mit dem Kämmen seiner makellosen Haare verbringt.
Darina erklärte in groben Zügen, zu welchem Zweck die Suchexpedition der Bonkas aufgebrochen war. Zu aller Überraschung erzählte Jonas’ Vater daraufhin, dass er sehr gut über die Besorgnis erregenden Geschehnisse auf der Erde informiert sei. Nur in den letzten elf Tagen habe das plötzliche Verschwinden seines Sohnes ihn alles andere vergessen lassen.
»Wir dachten, du wärst in die Hände der Malkits geraten oder sogar in der Spiegelregion ums Leben gekommen«, berichtete der hoch gewachsene Mann, der kaum älter aussah
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