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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Silhouetten schienen ihm vertraut, so vertraut wie kaum etwas sonst auf der Welt: der hoch gewachsene schlanke Mann, die zierliche Frau mit den glatten Haaren.
    »Jonas?« Die Stimme der Frau bebte. Sie war so leise, dass nur die Hoffnung sie an Jonas’ Ohr tragen konnte.
    »Mutter?«
    »Jonas!« Endlich riss sich der zarte Schatten der Frau von der Hand ihres Beschützers los und eilte auf den Jungen zu. Kurz vor ihm blieb sie abrupt stehen. Das schwache Licht aus dem Nebenzimmer fiel auf ein Gesicht, das von Gefühlen tief bewegt war.
    Die zunächst schmerzlich scheinende Miene wich bald einem Ausdruck tiefen Glücks. Tränen begannen zu fließen. All der Kummer, der dieses Antlitz so lange geformt hatte, fiel nun davon ab. Er war vergessen, nach so vielen Jahren, jetzt, da Sarah McKenelley endlich wieder ihren Sohn in die Arme schließen konnte.
    Jonas’ Vater hatte den Fensterbehang glatt aus der Halterung gerissen, um seinen Sohn in allen Einzelheiten studieren zu können.
    »In natura siehst du noch viel besser aus!«, schwärmte er ein ums andere Mal. Auch Robert McKenelleys Gesicht zeigte Spuren tiefer Gram, aber sein Lachen klang schon recht viel versprechend.
    »Lass doch, Dad«, wehrte sich Jonas halbherzig.
    Aber sein Vater dachte gar nicht daran, den Sohn zu schonen. Mit den Fingern zerzauste er dessen Haare. Er hob ihn vom Boden und drehte ihn herum, drückte ihn, küsste ihn, prüfte seine Oberarme, studierte seine Finger.
    »Bob! Nun lass ihn doch erst einmal verschnaufen«, mahnte Sarah ihren Mann. Sie tat das nicht ganz uneigennützig. Denn in dem Moment, als der Vater widerstrebend vom Sohn abließ, nahm sie ihn wieder in die Arme. Jonas war dieses Gefühl neu und doch irgendwie vertraut.
    »Woher habt ihr nur gewusst, dass ich es bin?«, kam nun endlich der Junge zu Wort. »Ihr kennt mich doch nur als kleines Kind.«
    Seine Mutter sah ihn mit stillem Lächeln an. Ihre dunklen Augen glänzten noch von den Tränen. »Wir waren immer bei dir. All die Jahre hindurch.«
    Jonas’ Augen wurden immer größer. Abwechselnd blickte er von der Mutter zum Vater und zurück. Natürlich hatte er schon als kleiner Junge das Gefühl gehabt, seine Eltern würden noch leben. Großvater hatte ihm ja beigebracht, was mit den Toten geschieht. Die Erinnerung an sie ist in der Vergessen heit versunken. Das Bild seiner Eltern hatte immer in seinem Herzen existiert…
    »Aber wie konntet ihr…?« Er sah wieder zu seinem Vater hin. »Du hast eben so was Komisches gesagt. In Natur sähe ich besser aus, oder so. Wie hast du das gemeint?«
    »Hier auf Azon gibt es Mittel und Wege, in die Welt der Menschen hinüberzublicken…«
    »Ich weiß«, unterbrach Jonas seinen Vater aufgeregt. »Aber Darina hat mir erklärt, im Zwieland gebe es keine Flüsterer. Ich meine, wie könnt ihr da…?«
    »Das ist richtig«, erklärte Robert lächelnd. »Die Nachkommen Keldins kennen zwar die Legende von der Höhle der Flüsterer – so etwas gibt es im Zwieland wirklich nicht –, aber wir hatten trotzdem eine Möglichkeit dich und übrigens auch meine Eltern, deine Großeltern, zu sehen. Mehr noch, wir konnten euch auch Dinge zuflüstern. Hast du schon einmal von Keldins Spiegeln gehört?«
    »Ja!«, entfuhr es Jonas. »Es gab drei davon. Einer befindet sich im Besitz der Malkits. Der andere ist vor vier Tagen… für immer verloren gegangen. Und der dritte ist schon vor langer Zeit zerstört worden.«
    »Du sagst, den zweiten Spiegel gibt es nicht mehr?«, hakte Robert nach.
    Jonas sah zu Boden. »Ich selbst bin schuld daran.«
    Robert nahm seinen Sohn bei den Schultern und sah ihm fest in die Augen. »Der zweite Spiegel des Schmieds wurde über Jahrtausende bewahrt für den Tag, der gemäß Keldins Weissagung das Volk der Bonkas und dasjenige der Keldinianer wieder zusammenführen sollte. Ich zweifle daran, dass du diesen Spiegel so einfach zerstört hast, Jonas. Aber ehe du uns ausführlich deine Geschichte erzählst, möchte ich dir etwas zeigen.«
    Jonas sah seinen Vater fragend an.
    »Komm, es befindet sich in einem Saal, ganz in der Nähe«, fügte dieser hinzu.
    Robert und Sarah führten ihren Sohn durch vier Räume in den Teil des Lapislazulipalastes, der dem Eingang direkt gegenüber lag. Sie traten gemeinsam in einen großen Saal, in dem ein riesiger runder Tisch aus schwarzem Obsidian stand.
    »Hier tagt hin und wieder der Große Rat von Kalvar«, erklärte Robert, wie ein Fremdenführer auf die Tafel deutend. Dann zeigte er

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