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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Dramatiker nicht minder opulent besetzt: Millionen von Statisten sollten sterben. Sarah Goldschmidt gehörte einer »Menschenrasse« an, die Hitlers Assistenten hierfür als ideale Komparsen ansahen.
    Schon wenige Monate nach Hitlers Machtergreifung begannen die Repressalien. Zahlreiche Gesetze wurden erlassen, welche die Juden praktisch aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens verbannten. Sarah durfte nicht mehr die Schule besuchen. Ihr Vater verlor seine Arbeit in einer nahe gelegenen Fabrik. In diesen Tagen wurden die Gesichter ihrer Eltern grau. Und allmählich kam auch Sarah das Gefühl der Geborgenheit abhanden. Vater und Mutter gaben sich bestimmt alle Mühe die Sorgen von den Kindern fern zu halten, aber es gelang ihnen nicht völlig. Bald war das kleine Familienvermögen aufgezehrt, viel zu teuer eingetauscht gegen die kleinen Dinge, die man zum Leben brauchte. Dann kam die Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Die Nazis nannten sie bald zynisch die »Reichskristallnacht«, gerade so, als sprächen sie von einer Jahrestagung der deutschen Juweliervereinigung.
    In dieser Nacht wurden Synagogen im ganzen Land zerstört, ebenso jüdische Geschäfte und Wohnungen. Etwa einhundert Menschen verloren dabei mehr als nur Hab und Gut – das Glitzern zersplitterter Fensterscheiben gab die Bühnenbeleuchtung ab für ihren staatlich inszenierten Tod. Unmittelbar darauf wurden etwa dreißigtausend Juden in Konzentrationslager eingesperrt. Ruben Goldschmidt, Sarahs Vater, war einer von ihnen.
    Rebekka Goldschmidt war mit ihren Kindern am 8. November für einige Tage zu den Großeltern in das nahe gelegene Marbach gefahren. Als sie von den Ausschreitungen gegen die Juden hörte, wollte sie sogleich nach Hause zurückkehren, doch Großvater bestand darauf, dass sie zunächst auf eine Mitteilung Rubens wartete, und versuchte auf seine Weise etwas in Erfahrung zu bringen. Sarah weinte viel in diesen Tagen – vor allem in den Nächten. Sie wünschte, hoffte und betete, dass der Vater plötzlich in der Tür stand und sie in seine starken Arme nahm, aber es kam nie eine Nachricht von ihm. Nie mehr.
    Zu dieser Zeit brach etwas in Sarahs Herzen entzwei. Sie fühlte sich im Stich gelassen, verloren, wie ein aus dem Nest gestoßenes Küken, allein in einer grausamen Welt. Obwohl sie sich später immer wieder sagte, dass sie alle nur Opfer der furchtbaren Umstände geworden waren, wollte doch dieses hilflos machende Gefühl des Alleingelassenseins nicht mehr von ihr weichen.
    Mutter versuchte alles, um sich ihre eigene Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. In den nachfolgenden Wochen sprach sie oft davon, Deutschland zu verlassen. Aber in Wahrheit war dies nur ein Selbstbetrug. Zu lange hoffte man bereits, das Gespenst des Nationalsozialismus sei nur ein übler Traum, aus dem das Land bald erwachen würde, ja, erwachen musste. Jede neue Repression der Machthaber erschien den Unterdrückten schon als der Gipfel der Ungerechtigkeit und man glaubte, dass es schlimmer nicht mehr kommen könne. Doch es wurde schlimmer. Viel schlimmer.
    Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann, riegelten die Nazis die Grenzen des Großdeutschen Reiches ab. An eine Flucht ins Ausland war nun nicht mehr zu denken. Wenig später wurden Sarahs Mutter, die beiden jüngeren Brüder und ihre Großeltern verhaftet und in großen Eisenbahnwaggons nach Ravensbrück und Sachsenhausen deportiert. Sarah selbst befand sich gerade außerhalb von Marbach auf einem Bauernhof bei den Schäubles, die Großvater ab und zu mit Gemüse und Wurst versorgten. Dadurch entging sie dem Zugriff von Hitlers Schergen. Zunächst jedenfalls.
    Bauer Schäuble hielt nicht viel von den »Braunröcken«, wie er alle Nazis nannte. Er machte einen behäbigen Eindruck – geistig wie körperlich. Er war wohlbeleibt, hatte eine rot geäderte Knollennase und einen so kurzen Haarschnitt, dass die Speckfalten auf seinem massigen Nacken wirkungsvoll hervortraten. Im Übrigen jedoch war er »verschlagen wie ein Jude«, so seine eigenen Worte. Nach Hitlers Machtergreifung hatte er allmählich ein ausgefeiltes System entwickelt den Staats- und Parteiapparat an der Nase herumzuführen. Nicht selten bediente er sich dabei schamloser Methoden, etwa der Bestechung, wenn er einem kleineren Beamten mit einer prallen Wurst aus eigener Schlachterei »das Maul stopfte« oder allzu Neugierige durch einige Humpen Most »ruhig stellte«.
    Beinahe fünf Jahre lang blieb Sarah auf dem Hof von Bauer

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