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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ihrem eigenen hageren Körper und schließlich gelang es ihr sogar, dem Sorgenkind etwas Nahrung einzuflößen. Eine solche aufopfernde Liebe war im Lager durchaus nicht selbstverständlich; mancher hatte genug damit zu tun, das eigene Überleben zu sichern. Als Sarah – dem Tode wohl schon näher als dem Leben – die Wärme dieser Liebe spürte, erwachten in ihr die Erinnerungen an die Geborgenheit ihrer Kindheit und mit ihnen der Wille zum Weiterleben.
    Von diesem Zeitpunkt an verbesserte sich ihr Zustand erstaunlich schnell. Als sie Ruth später einmal fragte, warum sie das alles für sie getan habe, zuckte die sanfte alte Frau nur mit den Schultern und erwiderte: »Ich habe mein Leben schon gelebt. Wenn ich meine Rationen mit dir teile und sterben sollte, gehe ich nur dahin, wo meine übrige Familie schon ist. Aber du, Kindchen, du bist noch jung.« Dann tippte sie sich mit dem dürren Zeigefinger an die Brust, dorthin, wo ihr Herz lag, und fügte hinzu: »Hier drin ist jemand, der zu mir gesagt hat: ›Rette dieses Kind. Wenn es stirbt, geht der Welt etwas Wichtiges verloren.‹ Also habe ich getan, was ich tun musste.«
    Sarah brachte das erste Lächeln seit langer Zeit zustande, wenn auch ein sehr schwaches. »Das war wohl ein kleiner Mann, der dir das zugeflüstert hat, was, Ruth?«
    Die Alte sah sie fragend an. Dann lächelte sie und nickte.
    Sarahs Welt begann langsam wieder heller zu werden. Wie sie empfanden übrigens viele in dieser Zeit, wenn auch aus anderen Gründen. Längst hatten neue Regisseure die Bühne Europas betreten und nun setzten sie ihren Fuß auch auf deutschen Boden. Hitlers große Inszenierung näherte sich vorzeitig ihrem Ende.
    Wenige Wochen nach Sarahs Gesundung, im April, als die Amerikaner im Westen und die Sowjetarmee im Osten immer weiter vorstießen, erreichte Hitlers Trauerspiel seinen Höhepunkt. Für die Gefangenen der Konzentrationslager sollte es noch keine Befreiung geben. Die Zeit der Todesmärsche begann. Die Flucht ins Nirgendwo dauerte nur wenige Tage. Dann brach das »tausendjährige Reich« endgültig zusammen, die SS-Bewacher flohen (wenn die Gefangenen sie ließen). Und plötzlich war Sarah frei.
    Bei Kriegsende, mit nicht einmal ganz zwanzig Jahren, blickte sie auf Erlebnisse und Erfahrungen zurück, die selbst manchem Greis während eines langen Lebens erspart blieben. Sie war aber trotzdem noch ein Kind, zumindest noch nicht erwachsen, so die Ansicht der Behörden. Diese suchten nur halbherzig nach einer Vorschrift, die es Sarah erlaubt hätte, bei der alten Ruth zu bleiben, welche das KZ knapp überlebt hatte. Eine Vormundschaft durch einen Vertreter der Obrigkeit kam jedoch für Sarah nicht in Frage. Sie war froh die Fürsorge von »Vater Staat« überlebt zu haben. Von nun an wollte sie ihr Geschick in die eigene Hand nehmen – selbst wenn es hierzu erforderlich sein sollte, sich zwei Jahre älter zu machen.
    Nachdem sie sich von Ruth verabschiedet hatte, kehrte sie mit dem Zug in den Südwesten Deutschlands zurück. Ihre Häftlingskleidung aus Ravensbrück half ihr die Reise ohne einen Groschen in der Tasche zu bewältigen. In Asperg gab es niemanden mehr, bei dem sie bleiben konnte. Doch mit viel Glück fand sie schließlich in Stuttgart eine notdürftige Unterkunft und wenig später auch eine Arbeit im Amerika- Haus.
    Hier lernte sie Robert McKenelley kennen, einen Nachrichtenoffizier der US-Army. Robert bekundete bald mehr Interesse an Sarah als an den Büchern, die er bei ihr auslieh. Da er sehr schüchtern war, fiel ihr zunächst nur auf, dass er in immer kürzer werdenden Abständen nach neuem Lesestoff fragte (unmöglich, dass ein normaler Mensch so schnell lesen konnte). Bald ertappte sie sich dabei, seinen nächsten Besuch zu erwarten, ja, geradezu ungeduldig zur Tür zu blicken, wann immer sich diese öffnete.
    Trotz seiner zurückhaltenden Art besaß Robert doch eine Gabe, die sich nicht verbergen ließ. Mit jedem Wort, das er sprach, mit jeder kleinen Geste verströmte er Vertrauen und Geborgenheit. Sarahs Bedürfnis nach dieser Art von Sicherheit war in den letzten Jahren zu einem brennenden Durst geworden und dieser rotblonde junge Mann kam ihr deshalb wie ein Geschenk des Himmels vor. Er schien alles zu besitzen, was ihr Begehren zu stillen versprach.
    Die Zusage zum ersten Rendezvous entlockte Robert ihr über den Buchdeckel von Hemingways Wem die Stunde schlägt hinweg. Sarah war sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte.

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