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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Schäuble unentdeckt. Selbst als dessen Frau im strengen Winter 1940 auf 1941 an einer Lungenentzündung starb und er sich hinfort nur noch wenig um die Welt jenseits seiner Felder kümmerte, hielt er weiterhin an der Meinung fest, dass es nicht recht sei, einen Menschen so schändlich zu behandeln, wie es die Braunröcke in der Kristallnacht mit den Juden getan hatten. Als Sarah ihn einmal fragte, warum er nicht genauso dachte wie scheinbar alle anderen um ihn herum, verzog er sein dickes Gesicht zu einem breiten Grinsen und antwortete: »Ganz einfach, mein Kind. Ich habe da einen kleinen Mann im Ohr und der flüstert mir zu, was Recht und was Unrecht ist.«
    »Schade, dass nicht mehr Menschen solche kleinen Flüsterer im Ohr haben«, erwiderte Sarah traurig.
    Bauer Schäuble wurde daraufhin sehr ernst und sagte: »Am Anfang hat fast jeder einen, aber die kleinen Kerle sind leicht zu kränken. Immer wenn man ihre Warnungen überhört, flüstern sie danach leiser. Irgendwann bleiben sie dann ganz weg.«
    Sarah, inzwischen fünfzehn Jahre alt, war Bauer Schäuble längst ans Herz gewachsen. Und obwohl auch sie den sturen Alten sehr gern hatte und ihm nach dem Tod der Bäuerin, so gut es ging, den Haushalt führte, fühlte sie sich auf Schäubles Gehöft doch niemals wirklich geborgen oder sicher. Das war auch nur schwer möglich: Sie durfte sich nie im Freien sehen lassen. Selbst im Haus musste sie sich von den Fenstern fern halten. Nicht selten lag sie stundenlang in einer Grube hinter dem Kuhstall, begraben unter einer Fuhre Mist, bis ein braun berockter Spitzel mit Schäubles hochprozentiger »Spezialabfüllung« in zeitweilige Besinnungslosigkeit versetzt und wieder vom Hof geschafft worden war.
    Dann kam der 6. Juni des Jahres 1944. Für Sarah schien es der Anfang vom Ende zu sein, für die übrige Welt war es der »D-Day«. Offenbar rechnete niemand damit, dass die alliierten Truppen gerade an diesem Tag, gerade in jener einsamen Gegend der Normandie landen würden, um ihren entscheidenden Sturmangriff gegen Hitlers »tausendjähriges Reich« zu beginnen – auch die Männer in den schwarzen Ledermänteln nicht, die morgens um halb sechs auf dem Hof von Bauer Schäuble auftauchten. Sie fochten ihre eigene Schlacht. Irgendwie musste die Kunde von dem versteckten Judenmädchen doch ans Ohr eines Spitzels gedrungen sein, vielleicht bei einem der gelegentlichen Wirtshausbesuche, wenn Schäuble wieder mal vergeblich die Trauer um seine Frau im roten Trollinger zu ersäufen versuchte.
    Vor dem Polizeirevier wurde der alte Mann aus dem Lastwagen gezerrt. Sarah vergaß nie den um Verzeihung flehenden Ausdruck in seinem Gesicht. Der Bauer sollte nur noch wenige Tage leben. Wie Sarah später erfuhr, erlag er im Gefängnis in Stuttgart einem Herzinfarkt. Ein Mithäftling, der die letzten Stunden mit dem schweigsamen Mann geteilt hatte, bestand darauf, dass er an gebrochenem Herzen gestorben sei.
    Sarah wurde direkt zum Bahnhof nach Marbach gebracht. Von dort ging es in einem Viehwaggon nach Ludwigsburg, dann nach Heilbronn, immer weiter nach Norden, bis sie das Konzentrationslager Ravensbrück erreichte.
    Hier erlebte sie die schrecklichsten Monate ihres jungen Lebens. Hunger, Krankheit und Tod waren im Lager allgegenwärtig. Weil sie stark und – dank Bauer Schäuble – wohlgenährt war, wurde Sarah zur Zwangsarbeit verpflichtet. Das Jahr 1945 hatte kaum begonnen und sie glaubte, dass es schlimmer nicht mehr kommen könne, da erblickte sie ihre Mutter, nur einen einzigen grausamen Augenblick lang. Sie lag auf der Ladefläche eines Lastwagens. Tot. Auf einem Stapel anderer Leichen. Ihr Körper war so abgemagert, dass sie in nichts mehr jener Rebekka Goldschmidt glich, die Sarah von früher her gekannt hatte – nur das herzförmige Muttermal auf der Stirn war geblieben.
    Das Fahrzeug entfernte sich schnell in Richtung Krematorium, aber der schreckliche kurze Augenblick hatte gereicht, um Sarah den letzten Zufluchtsort zu nehmen, den sie sich in ihrem Herzen noch bewahrt hatte: die Erinnerung an ihre Mutter, an ihre Wärme, ihre schützende Nähe.
    Wäre da nicht die alte Ruth in der dritten Etage über Sarahs Bett gewesen, so hätte sie die kommenden Tage gewiss nicht überlebt. Sarah hatte nämlich beschlossen zu sterben. Sie verweigerte jede Nahrungsaufnahme und wurde krank. Der fürsorglichen alten Bettnachbarin gefiel Sarahs Lethargie überhaupt nicht. Sie sprach dem Waisenmädchen immer wieder Mut zu, wärmte es mit

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