Das Echo der Flüsterer
flimmernde Wand, die ihm den Weg versperrte.
Der Junge sah wieder zu Bergalf hinüber. Auf der Stirn des Fährtensuchers standen dicke Schweißtropfen. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Von einem neuen Brüllen aufgeschreckt, warf Jonas den Kopf herum.
Der Gorrmack wurde plötzlich wieder lebendig. Mit einer Geschwindigkeit, die niemand ihm zugetraut hätte, wirbelte sein gigantischer Leib herum. Der zackenbewehrte Schwanz des Ungetüms beschrieb einen Halbkreis und flog regelrecht auf die Häuser Kalvars zu. Immer näher kam das schuppige Schwanzende herangesaust. Jonas kniff die Augen zu. Er hörte ein ohrenbetäubendes Krachen. Als er die Lider vorsichtig hob, stand er in einer dicken Staubwolke.
Der Gorrmack hatte die Flucht ergriffen. Er rannte wie ein kristallener Sturm an der Außengrenze der Stadt entlang. Vor dem Haus, auf dem sich Jonas und seine Gefährten befanden, erstreckte sich eine lange Trümmerspur.
Schnell geleitete Mangaar die Gefährten durch das beschädigte Gebäude auf die Straße hinab. Wie durch ein Wunder war Bergalfs »Hochsitz« nicht eingestürzt. Im Untergeschoss des Hauses klaffte ein riesiges Loch. Die Schwanzspitze hatte die Ecke des Gebäudes nur gestreift, aber allein dadurch schon eine Wand zum Einsturz gebracht.
Robert trug den tapferen Fährtensucher, der mit seiner Gabe den Gorrmack in Panik versetzt hatte, auf den Armen. Bergalf war so erschöpft gewesen, dass seine Füße ihn nicht mehr hatten tragen wollen. Auf der mit Trümmern übersäten Straße grinste er Jonas’ Vater schon wieder an und sagte: »Wenn ich so hässlich wie dieses Biest wäre, dann hätte ich mich auch vor meinem eigenen Spiegelbild aus dem Staub gemacht.«
»Das war alles?«, fragte Jonas erstaunt. »Du hast dem Gorrmack nur sein Spiegelbild gezeigt?«
Bergalf nickte. Sein staubiges grinsendes Gesicht ähnelte einer venezianischen Karnevalsmaske.
»Für den Gorrmack war es eine ganz neue Erfahrung«, bemerkte Darina abgeklärt. »Er hat wahrscheinlich noch nie etwas Größeres als einen Büffel gesehen. Da hat ihm sein Ebenbild einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Wie bist du darauf gekommen, Bergalf?«
»Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, ein Flüsterer hat’s mir verraten. Ich habe mich wohl an das erinnert, was ich hin und wieder auf meinen Touren durch die Berge beobachte. Manche Tiere reagieren genauso wie der Gorrmack, sobald sie sich zum Saufen über einen kristallklaren See beugen und zum ersten Mal ihr Spiegelbild sehen.«
Inzwischen liefen schon die ersten Kalvarer bei dem Helden des Tages und seinen Gefährten zusammen. Auch Sarah, Sam und Numin kamen herbei. Jonas schaute mit einem warmen Gefühl im Herzen zu, wie seine Eltern sich um den Hals fielen, und ihm wurde noch wohler, als sie beide die Hände nach ihm ausstreckten und ihn in ihre Umarmung einbezogen.
DER KRIEGSRAT
Die Nacht war alles andere als still. Ganz Kalvar schien auf den Beinen zu sein. Die Rettung vor dem Gorrmack musste ausgiebig gefeiert werden.
Nabin, Numins Vater, hatte die so plötzlich obdachlos gewordenen beiden Weisen in sein Haus eingeladen und alle anderen Gefährten dazu. Ähnlich machten es Freunde und Verwandte mit denjenigen, die allein durch die Schwanzspitze des Kristallriesen ihr Heim verloren hatten. Die Keldinianer von Kalvar waren schon immer so etwas wie eine große Familie gewesen. Diese Tradition existierte, seit Keldin mit seinen Getreuen ins Zwieland geflohen war. Ebenso wie der Brauch die Toten in der Juwelenschlucht zu begraben. Für dreizehn Angehörige des Kleinen Volkes würde dies die letzte Ehre sein, die ihre Verwandten und Freunde ihnen erweisen konnten. Sie waren Opfer der Panik, die der Gorrmack über Kalvar gebracht hatte, dreizehn weitere Leben auf der langen Liste von Kanthelms Freveltaten.
Das Haus des Oberältesten war ähnlich angelegt wie der nun zerstörte Lapislazulipalast. Die eigentlichen Wohnräume umschlossen einen Innenhof, der hier jedoch in der Mitte noch einmal durch eine dichte, hohe Hecke geteilt war. Im vorderen Bereich wurde Bergalfs Heldentat gefeiert und im hinteren näherte sich Jonas einer nachdenklichen Darina.
Die Wissende stand bei einem Baum, von dem dunkelrote Früchte herabhingen, die Jonas an Granatäpfel erinnerten. Er bewegte sich so leise, wie es ihm nur möglich war. Von der anderen Seite drangen dumpf die Stimmen und das Gelächter der Feiernden herüber. Obwohl er sich Darina von hinten
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