Das Echo der Flüsterer
durchtrennt.
»Und, bekommst du die Schnur los?« Bergalfs Stimme schwebte über Jonas.
»Nein, verflixt und zugenäht! Ich muss die Öse auch noch auf der anderen Seite durchschneiden.«
»Der Berg scheint stillzuhalten. Also tu, was du nicht lassen kannst.«
Jonas tat es. Als er auch die gegenüberliegende Seite des aus dem Boden geschnittenen Kristallrings durchtrennt hatte, war nur noch eine sanfte Berührung des Fadens notwendig und schon wurde dieser so elastisch, dass er sich mühelos aus dem Weg biegen ließ. Seltsam war nur, dass die Schnur immer sofort wieder erstarrte, sobald der Dolch sie nicht mehr berührte. Nach einer Dreiviertelstunde blickte Jonas zufrieden auf drei neue zur Seite gebogene Schnüre.
»Sieht aus wie das Fenster einer Gefängniszelle nach einem Ausbruch«, stellte er fest. »Nur dass die Gitterstäbe hier ein bisschen dünner sind.«
»So werden wir es schaffen«, stimmte ihm Bergalf zu. Obwohl das Gesicht des Fährtensuchers von Schlafmangel gezeichnet war, wirkte es nun zuversichtlich und entschlossen. »Soll ich dich ablösen, Jonas?«
»Ein paar schaffe ich noch. Ruh du dich nur noch ein wenig aus, Bergalf. Du hast es im Augenblick nötiger als ich.«
Robert löste Bergalf an der Fackel ab und Jonas sägte sich mit neuem Eifer durch weitere Ösen. Darina hatte darauf bestanden, dass der Vorhang geschlossen wurde – wenigstens notdürftig –, sobald die Karawane hindurchgezogen war. Das war mit »Jonas’ Methode«, wie sie schnell von allen genannt wurde, nun wesentlich leichter möglich. Man musste nur den Dolch an die »bearbeiteten« Fäden legen, bis sie schlaff herabsanken. Wenn man dann den Dolch von den Schnüren wegnahm, wurden diese augenblicklich starr und es war kaum noch zu erkennen, dass die unteren Ösen am Boden durchtrennt waren.
Nach zweieinhalb Stunden hatte Jonas sechs weitere Fäden gelöst. Sein Handgelenk schmerzte vom ständigen »Sägen«. Bergalf übernahm wieder den Dolch.
Das Entflechten des Vorhangs hatte die unermüdlichen Arbeiter inzwischen aus dem Durchgang heraus- und in die Nachbarhöhle hineingeführt. Wie erst jetzt zu erkennen war, handelte es sich dabei gar nicht um eine Höhle im eigentlichen Sinn. Vielmehr verschloss der Kimbaroth an dieser Stelle nur einen anderen Tunnel von erheblich größerem Durchmesser, als ihn der schmale Gang aufwies, durch den sich Jonas und Bergalf gerade hindurchgearbeitet hatten. Der Nebengang, der ins Zwieland führte, stieß im rechten Winkel auf den Haupttunnel, der offenbar die Länder der Bonkas und der Malkits miteinander verband. Doch in welche Richtung sollten sie sich wenden?
Durch die verwirrenden Reflexe des Fackellichts auf den Fäden konnte man nicht weit genug voraus sehen.
»Irgendwo da hinten muss die Höhle der Flüsterer sein«, meinte Darina, als der Scheideweg erreicht war.
»Und woher willst du das wissen?«, fragte Jonas.
Darina sah ihm nur lächelnd in die Augen.
Er schüttelte den Kopf und winkte ab. »Vergiss meine Frage. Ich kann’s mir schon denken. Wie weit ist es von hier bis zur Flüstererhöhle?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Der Weg dorthin führt durch ein verwirrendes Höhlensystem. Deshalb haben die Bonkas auch vor langer Zeit schon vergessen, wo sich der Kimbaroth wirklich unter den Hängenden Bergen befindet. Sie kennen zwar den Gang, den man von der großen Höhle der Facetten aus nehmen muss, aber niemand hat sich seit Bonkagedenken mehr in das Labyrinth aus Tunneln und Schächten gewagt.«
Als sie endlich die letzten Fäden des Kimbaroth gelöst hatten, war der Vormittag des neuen Tages schon weit fortgeschritten. So schnell wie möglich wurden die Tiere durch die schmale Gasse geführt, die von Jonas und Bergalf geöffnet worden war. An einigen Stellen mussten die Schelpins sich regelrecht zwischen den Schnüren hindurchzwängen. Wollige Flocken blieben an den Kristallfäden hängen, als ihr Fell wie an einem Schermesser entlangstreifte. Das Gepäck wurde den Tieren von den Bonkas und Menschen hinterhergetragen.
Sam Chalk fiel es besonders schwer, die Engstellen des glitzernden Geflechts zu passieren. Schwitzend presste er sich zwischen den Fäden hindurch. Erst viel später sollte er bemerken, dass er dabei zwei seiner Hemdknöpfe eingebüßt hatte.
Als alle die andere Seite des Vorhangs erreicht hatten, machten Jonas und Bergalf sich an die Arbeit das Flechtwerk wieder zu verschließen. Auf der Zwielandseite knüpften sie gerade genug Knoten, um
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