Das Echo der Flüsterer
aller Augen in einen narbengesichtigen Malkit. »Keine Angst, alles nur Make-up«, beruhigte er die völlig konsternierten Männer. Die einäugige Fratze grinste. »Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Aber das müssen wir den anderen ja nicht verraten, oder?«
Der Gefangenenzug bewegte sich so langsam auf das Haupttor des inneren Palastbezirks zu, dass Jonas glaubte, er müsse gleich platzen. Bergalf zischte hinter ihm: »Nur ruhig, Jonas. Du bist ein mächtiger Herrscher und musst vor niemandem fliehen.«
Der Kopfsteinpflasterweg verlief nun hangabwärts. Wenn sie erst das Tor passiert hatten, würden sie bald am Fuße des Hügels sein. Kraark hatte sich in die Luft geschwungen, um den weiteren Weg zu erkunden. Bergalf, Darina und Numin sahen aus wie bewaffnete Mitglieder der Palastwache. Es hatte den Fährtensucher große Konzentration gekostet, diese Illusion zu erschaffen, und nur mit allergrößter Anstrengung konnte er sie aufrechterhalten. Dank seines Bilms war er zwar imstande das Licht zu formen, aber derart feine Details wiederzugeben fiel ihm erheblich schwerer, als sich einen plumpen Schatten als Tarnmantel überzuwerfen.
Dann erreichte der Zug das große Gittertor.
»Exzellenz! Ihr?«
Jonas fasste sich so kurz wie nur irgend möglich. Er hoffte inständig, seine Stimme würde ihn nicht verraten. Um sicher zu gehen, wählte er einen sehr harschen Tonfall: »Was beim Kristall glaubt ihr denn, wer ich bin? Öffnet sofort das Tor!«
»Aber Exzellenz, Ihr selbst habt doch Befehl erlassen…«
»Willst du mir etwa widersprechen?«, blaffte Jonas den Wachmann an.
»N-Nein…«
»Gut, dann öffne endlich das Tor. Die Brände im Palast oben sind wahrscheinlich von Verschwörern gelegt worden, vielleicht sogar von Angehörigen meiner Leibgarde. Vermutlich wollen sie die Wanderer befreien und mich töten. Aber das wird ihnen nicht gelingen, weil ich und meine ›Gäste‹ nicht mehr da sein werden.« Jonas beugte sich von seinem Schelpin zu dem Wächter hinab und grinste ihn mit eisiger Fratze an. »Und jetzt wäre ich dir sehr verbunden, wenn du meinem Befehl Folge leisten würdest.«
Der Soldat nickte eilfertig und gab dann seinen Kameraden im Torhaus einen Wink. Gleich darauf wurde ein verborgener Mechanismus in Gang gesetzt und das schwere Eisengitter hob sich langsam in die Höhe.
Jonas passierte das Tor, wendete dahinter sein Schelpin und wartete, bis alle Gefährten an ihm vorübergeritten waren. Dann winkte er noch einmal der Torwache zu. »Schließ das Tor und lass bis zum Morgengrauen niemanden mehr durch. Im Augenblick kann ich keinem außer euch trauen. Du bist mir persönlich dafür verantwortlich, dass uns keiner folgt. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Natürlich, Exzellenz. Ich werde das Tor mit meinem Leben verteidigen.«
»Dem Kristall sei Dank, dass ich solche Männer wie euch habe. Wenn ihr mich wieder seht, werdet ihr den euch gebührenden Lohn empfangen.«
Der Soldat salutierte. Dann verschwand seine Gestalt hinter dem sich senkenden Gitter.
»Findest du nicht, dass du ein bisschen dick aufgetragen hast?«, fragte Bergalf, als sie den Hang hinabritten.
»Er hat seine Sache sehr gut gemacht«, verteidigte Darina ihren Retter.
»Ja, aber diese zweideutige Formulierung am Schluss. Sollte der echte Kanthelm je aus seinem brennenden Zimmer gerettet werden, wird er seinen Torwächtern eine herbe Enttäuschung bereiten. Der Lohn, den sie dann erhalten, wird ihnen ganz und gar nicht gefallen.«
»Jeder bekommt das, was er verdient«, versetzte der falsche Kanthelm zufrieden.
Die Wachposten am unteren Tor ließen sich genauso leicht beeindrucken wie ihre Kameraden oben. Jonas erzählte ihnen von der Verbringung der Gefangenen an einen sicheren Ort. »Ihr wisst schon«, fügte er mit verschwörerischem Augenzwinkern hinzu. Er spekulierte darauf, dass Kanthelm nicht nur einen Palast hatte.
Die plumpe Vertraulichkeit ihres obersten Befehlshabers kam den Wachen zwar etwas merkwürdig vor, aber keiner zweifelte an Kanthelms Identität. Bald darauf tauchte der Zug mit den Gefangenen unbehelligt in den Straßen Tikrars unter.
Als Jonas sich noch ein letztes Mal umsah, stand ein helles Glühen am Himmel. Der Graue Palast brannte lichterloh. Ob Kanthelm wohl noch am Leben war?
DER STURM
Die Schelpins gaben ihr Letztes. In einer enormen Kraftanstrengung schleppten die wolligen Tiere ihre schwere Menschenlast die Straße zu den Hängenden Bergen empor.
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