Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
entscheidenden Kampf ausfechten musste. Es war eine schlimme Vorstellung. Je näher der Termin rückte, desto mehr litt ich darunter.
Die Adventszeit war vorüber, der Verhandlungsbeginn war auf Mitte Januar anberaumt worden. Ich hatte Dora und Ernie reinen Wein über Pascal und die Vorfälle in Südfrankreich eingeschenkt. Als ich sie während der Weihnachtstage besuchte, versuchten sie mir Mut zu machen. Doras Art, das zu tun, war ein tolles Menü an Heiligabend, dessen Krönung ihr berühmter Blueberry Pie war. Wir scherzten darüber, dass die Früchte bei ihrem letzten Heidelbeerkuchen aus dem Abfall gestammt hatten. Zu später Stunde genossen wir den Pie bei einem Glas Sekt und zündeten die Christbaumkerzen noch einmal an.
»Wirst du Herrn Stein in Frankfurt wiedersehen?«, fragte sie bedeutungsvoll.
»Zwangsläufig.« Ich ließ den noch warmen Mürbeteig auf der Zunge zergehen.
»Na komm, zwangsläufig – das nehme ich dir nicht ab.« Dora schüttelte ihre Mähne. »Der Mann ist dir doch nicht gleichgültig.«
»Nein, aber die Umstände, die uns zusammengeführt haben, sind zu außergewöhnlich, als dass …«
Ich schaute ins Kerzenlicht. Dora hatte mich auf etwas aufmerksam gemacht, das bis jetzt keinen Platz in mir gehabt hatte: ein anderer Mann. Ich lebte in Scheidung. Bald würde ich frei und ungebunden sein, irgendwann würde ich einen anderen kennenlernen, wahrscheinlich einen Kanadier, jemanden, mit dem ich auch in der Liebe einen Neuanfang machen könnte. Mein Gefühl für Ray war voll Wärme, voll Heiterkeit. Doras Anspielung löste die Vorfreude aus, ihn wiederzusehen.
»Wir wollen auf ein glückliches neues Jahr trinken!« Ich stieß mit den beiden an. »Merry Christmas and a Happy New Year!« Wir ließen die Gläser klingen.
Nachdem wir bereits zu Bett gegangen waren, griff ich noch einmal zum Telefon. Ich hatte Rays Karte in der Hand und zögerte. War Weihnachten nicht die Zeit im Jahr, in der man jemanden einfach anrufen konnte? Ich wollte Rays Stimme hören und ihm alles erdenklich Gute wünschen. Sabine fiel mir ein. Er hatte sie bei keinem unserer Telefonate erwähnt, als wir über Pascal und die Gerichtsverhandlung redeten. Heute Nacht wollte ich erfahren, wie es Ray wirklich ging.
»Ja?« Die Stimme am anderen Ende klang muffelig, gar nicht weihnachtlich.
»Ist das … bin ich richtig … Herr Stein?« Ich war verwirrt. Mein Anruf kam mir nun doch wie ein Überfall vor.
»Tony – na so was!« Es war Ray, und war es irgendwie doch nicht.
»Störe ich? Heiligabend sind Sie wahrscheinlich bei Ihren Eltern oder mit Sabine …«
»Meine Eltern machen eine Kreuzfahrt. Die sind irgendwo, wo es warm ist.«
»Und Sabine?« Ich wollte nicht aufdringlich sein, aber der sonst so beherrschte Ermittler klang verändert.
»Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte er mit einem Seufzen.
»Sonst hätte ich nicht angerufen.«
»Sie ist – wie sagt man? – auf und davon.«
»Sabine?«
»Tja, die Menschen sind eben unberechenbar«, sagte er nach einer Pause. »Besonders die, die man besonders gut zu kennen glaubt.« Eine Bewegung im Hintergrund, etwas fiel zu Boden. »Eine Frau, die dem Tod ins Gesicht geschaut hat, deren Krankheit uns so innig zusammenbrachte wie selten zu der Zeit, als sie noch gesund war. Die Frau, die mir sagte, welche Blumen ich auf ihr Grab legen soll, wenn es so weit ist.« Er räusperte sich. »Und eines schönen Tages sieht es so aus, als ob sie das Schlimmste überstanden hätte …« Er sprach nicht weiter.
»Aber das ist doch wunderbar!«
»Wir haben uns auch unsagbar gefreut. Und ich …« Er suchte nach Worten. »Meine Liebe war mit einem Mal so groß … Ich sah wieder ein Leben vor uns, ein gemeinsames Leben!«
Wie gut ich diesen Wunsch kannte, wie sehr ich ihn verstand, und doch sagte ich nichts.
»Sie schien meine Gefühle und Hoffnungen zu teilen.« Es hörte sich an, als ob er aufstand. Glas klirrte. »Zwei Tage vor Heiligabend sagte sie mir dann, dass sie ganz von vorn beginnen will.«
»Das ist nur natürlich«, anwortete ich und wusste zugleich, er wollte auf etwas anderes hinaus.
»Sie sagte: Von nun an will ich keine Zwänge mehr. Ich lasse mich weder von der Krankheit noch von dir zu irgendetwas zwingen.« Eine Pause, er schien zu trinken. »Ich verstand nicht gleich, was sie meinte. Dann rückte sie damit heraus. Ein Leben mit mir bedeutet, immer nur zu warten. Es bedeutet, nur nach meinem Terminkalender Pläne zu machen. Meine Fälle, sagt
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