Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
mit Dr. Hollmann treffen.«
Ich war nicht einverstanden, hatte ihm aber nicht widersprochen, einen Termin zu vereinbaren. Durch das Küchenfenster hatte ich David davoneilen sehen. Ich duschte, lehnte mich gegen die Fliesenwand und ließ das Wasser über mein Gesicht laufen. Ich war so zufrieden, wie man in meiner Lage sein konnte. Nach drei Monaten Abstinenz hatte ich Sex mit einem Mann gehabt, und er bedeutete mir etwas. David hatte mir von Anfang an gefallen, weil er frech war, nicht oberflächlich, weil er zur Verfügung gestanden hatte, als ich ihn dringend brauchte. Nicht deshalb hatte ich mit ihm geschlafen, sondern weil ich spürte, dass sich David bei allem, was er für mich tat, in einem Dilemma befand. Er hatte Gefühle für eine verheiratete Frau, die nicht wusste, ob sie ihren Ehemann betrauern oder verfluchen sollte. Er wollte mir helfen, meinen Mann zu finden, obwohl er etwas für mich empfand. Sex macht alles komplizierter, hieß es, vielleicht war es so, aber das war mir in diesem Moment egal. Es gab noch genug komplizierte Dinge, die auf mich warteten, David war erwachsen und musste auf sich selbst aufpassen. Wie hatte er es ausgedrückt? Eine Seilschaft bleibt eine Seilschaft. Ich war noch Lichtjahre davon entfernt, mir einen neuen Mann vorzustellen, solange der alte als Gespenst über mir aufragte, solange ich mich in seinem Haus aufhielt und keine Ahnung hatte, wie mein Leben weitergehen würde.
Ich brauchte einen klaren Kopf und wechselte von heißem auf kaltes Wasser. Beim Abtrocknen dachte ich an den kleinen Jungen – ob er Pascal ähnlich sah? Sieben Jahre, überlegte ich, Robbie ging also in Frankfurt zur Schule. Morgens machte Jessica ihm Frühstück, oder hatte sie eine Hilfe dafür?
In einem Haus wie diesem, einem großen alten Haus , fielen mir Davids Worte ein. Irgendwo hier bewahrte Pascal bestimmt Fotos von Robbie auf. Ich zog einen Bademantel über und begann erneut in der Villa zu suchen. An der Südseite führte ein Korridor in den Wintergarten mit seinen schmiedeeisernen Fenstern. Pascal hatte diesen Raum als Werkstatt eingerichtet. In Toronto hatte ich oft gestaunt, wie geschickt der Mann, der seinen Beruf in erster Linie virtuell ausübte, mit den Händen war. In meinem abgewohnten Apartment gab es immer etwas zu reparieren; nur im Notfall hatte Pascal einen Handwerker geholt. »Das kann ich selbst«, hatte er gesagt und sich auch vor schmutzigen Arbeiten nicht gescheut, bei denen er unter die Spüle kriechen musste. Der Mann in den teuren Anzügen, der mit Millionen jonglierte, hatte die Ausgabe für den Klempner gespart.
Ich betrat den Wintergarten. Alles wirkte ordentlich: die Schraubenzieher nach Größe und Funktion aufgehängt, die Hämmer sortiert, die Kabel der Schleifmaschine und der Kreissäge aufgewickelt. Ich scheute mich, etwas vom Platz zu bewegen, in diesem Raum befand sich mehr von Pascals Persönlichkeit als in seinem Arbeitszimmer. Ich öffnete Schubladen, in denen Schrauben aller Größen, sogar verbogene Nägel aufbewahrt wurden. Es gab auch eine Schublade für Gebrauchsanweisungen; ob Flex oder Rasenmäher, Akkubohrer oder Fräsmaschine, alles war hier ordentlich aufbewahrt.
Darunter lagen die Fotos. Es waren sieben Stück, als ob er für jedes Lebensjahr seines Kindes ein Bild aufbewahrt hätte. Die ältesten zeigten Robbie noch neben Jessica, dann verschwand sie, und es war nur noch Robbie da. Dunkelhaarig wie Pascal, mit dem gleichen intensiven Blick, ich meinte sogar Pascals Unersättlichkeit an ihm zu entdecken. Robbie kam nach seinem Vater; alles war noch zart und unfertig, aber glaubte man den Bildern, wuchs hier ein typischer Zuermatt heran.
Mit einem Schlag wurde ich so traurig, dass ich mich, die Bilder in der Hand, auf den Boden setzte. Es war kalt, der Raum war aus Glas, ich fühlte mich ausgesetzt wie in einem Raumschiff. Rund um mich hatte alles Kontur und Gestalt, nur mein eigenes Leben nicht. Ich wollte Grund finden und fand nur Abgrund, wollte eine Richtung einschlagen und verlor mich immer weiter. Ich verließ den Wintergarten und ging langsam zurück. Der Boden des Korridors bestand aus alten, handgeschöpften Cottosteinen. Ich fühlte eine Unebenheit zu meinen Füßen. In die Bodenfliese war ein Relief eingearbeitet, die Konturen waren durch die vielen Schuhe, die darüber gelaufen waren, kaum noch zu erkennen. Normalerweise interessierte ich mich für Details wie diese, doch nicht jetzt. Ich hatte genug von den unbekannten Dingen,
Weitere Kostenlose Bücher