Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
durch diese Aufführung eine Parabel unserer eigenen Beziehung vorgeführt. Ich hatte es nicht verstanden. Hatte er mir die Wahrheit sagen, mich einweihen wollen? Hatte Jessica ihn daran gehindert?
All das hätte ich ihn fragen müssen! Nach Monaten der Trennung waren wir nur einen Tag zusammen gewesen. Konnte man nach so kurzer Zeit eine schwerwiegende Entscheidung wie meine fällen? Ich hielt ihm zugute, dass er während unserer gemeinsamen Stunden nicht einmal versucht hatte, seine Taten als richtig hinzustellen. Er lebte mit seiner Schuld und hatte wahrscheinlich nicht erwartet, dass ich ihm verzeihen könnte – bis wir miteinander geschlafen hatten. Das Band der körperlichen Liebe war auch für mich sehr stark. Ich hatte mich aus Vernunftgründen gegen Pascal entschieden. Nun aber, zu Fuß unterwegs auf der einsamen Serpentinenstraße, verlor die Vernunft ihre Kraft, die Intimität, das gegenseitige Begehren kehrte zurück. Ich fürchtete, diesem Mann auch in Zukunft nicht gegenübertreten zu können, ohne etwas Ähnliches zu empfinden. Dieses Gefühl ließ mich an meiner Entscheidung zweifeln. Ich musste all den Wirrnissen entgehen.
Nichts Besseres fiel mir ein, als umzukehren und Schlaf zu suchen. Ein neuer Tag würde vielleicht bessere Antworten bringen. Ich ging zu Bett. Bevor ich das Licht löschte, legte ich Pascals Handy eingeschaltet auf den Nachttisch, das Display erlosch nach ein paar Sekunden.
Am nächsten Morgen nahm ich mir vor, mich endlich wieder um meine Gäste zu kümmern. Auch wenn ich nicht in Stimmung war, mit Dora Touristenattraktionen abzuklappern, war ich ihr das schuldig. Es wurde jedoch Vormittag, bevor Dora und Ernie sich zeigten. Wir trafen uns zu einem späten Frühstück auf der Terrasse.
»Was hältst du davon, wenn wir den Nachmittag in Nizza verbringen?« Ich aß ausgiebig, seit gestern hatte ich einiges nachzuholen.
Dora schnitt ihr Gemüseomelette in kleine Stücke. »Ich möchte heute nichts Anstrengendes unternehmen.«
»Warum fahren wir nicht ans Meer, mieten drei Liegestühle und lassen es uns gut gehen?«
Sie nahm einen winzigen Bissen. »Hier ist es doch aber auch ganz schön.«
Ich sah sie an. Der nächtliche Anfall hatte sie verändert, ihr die Abenteuerlust, den Mut genommen. Sie war in der Fremde, sie fühlte sich krank. Jahrzehntelang hatte sie von den Traumplätzen der Erde geschwärmt, nun war sie im Paradies angekommen und wollte sich am liebsten in ihrer Höhle verkriechen.
Ich berührte ihre Hand. »Warum bleibst du nicht einfach im Bett?«
»Ins Bett kann ich mich legen, wenn ich wieder in meinem Armenhaus bin.« Sie wies aufs Meer. »Ist das nicht herrlich?«
Auch ich ließ den Blick schweifen. Das Besondere an der Landschaft war das Aufeinandertreffen von Weichheit und Härte. Die schroffen Felsen, die hellen Häuser, die das Licht als messerscharfe Konturen herausriss. Zugleich war der Himmel von Herbstschleiern überzogen, Meer und Horizont verschwammen. In dieser müden Luft verschwand der Hintergrund allmählich in blauen und violetten Tönen.
»Sag mir einfach, was du unternehmen willst«, sagte ich, während wir in die Ferne schauten.
»Dora will von den Dingen träumen.« Ernie saß zurückgelehnt im Korbsessel. »Sie will darüber plaudern, was man machen könnte , wie es sein würde , wenn man dort und dort wäre . Sie braucht es nicht in Wirklichkeit zu erleben.«
Er schaute seine Lebensgefährtin mit einer Nüchternheit, zugleich aber mit solcher Liebe an, dass ich mich fragte, ob ich die Rollenverteilung der beiden bisher missverstanden hatte. Dora, die Dampfwalze, die den trägen Ernie durch ihre Energie mitriss, daneben durfte er im Schatten ihrer Power faulenzen. Ich hatte ihn immer als den Unterdrückten in dieser Partnerschaft angesehen, in Wirklichkeit waren sie bestens aufeinander abgestimmt. Dora zog ihre Show ab und tat, als ob sie die Welt aus den Angeln heben könnte. Ernie akzeptierte, dass diese Attitüde nichts als heiße Luft war, ließ sich von ihr von oben herab behandeln und hielt ihr trotzdem die Treue.
Sie widersprach ihm nicht, zeigte stattdessen auf eine Kaktusgruppe am Fuß der Hotelanlage. »Solche gibt es auch in Mexiko. Dort sind die Kakteen natürlich um einiges größer.«
Wir ließen einen ruhigen Tag an uns vorübergleiten, nach all der Aufregung war mir das willkommen. Ich dachte an Pascal, dachte an unser Ende und bezweifelte es zugleich. Dora, Ernie und ich kreisten um die Terrasse, ließen uns
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