Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Hatte Nathan Moor etwas berührt, das niemand zuvor zu berühren vermocht hatte?
    Unsinn, entschied er, verdammter Unsinn.
    Aber was war es dann?
    Mit müden Bewegungen stand er auf. Kim würde bald wach werden. Und Livia auch. Sollte er ihr sagen, was geschehen war? Aber er verspürte nicht die geringste Lust, mit diesem Trauerkloß zusammenzusitzen und plötzlich in einem gemeinsamen Schicksal vereint zu sein. Zwei Gehörnte, die darauf warteten, dass ihre treulosen Ehepartner irgendwann zurückkehrten. Falls sie überhaupt vorhatten, dies jemals zu tun.
    Ich fahre nach London zurück, beschloss er, ich setze mich nicht hierher und stehe zu ihrem Empfang bereit, wenn sie auf einmal genug bekommt von ihrem neuen Lover. Oder wenn sie sich erinnert, dass sie ein Kind hat, für das sie verantwortlich ist.
    Dann kann sie auf mich warten.
     
    2
     
    Es war auf den Tag genau eine Woche her, seit Rachel verschwunden war.
    Heute war Sonntag, der 3. September. Am Sonntag, den 27. August hatte sie sich auf den Weg zur Kirche gemacht, und dann war sie nicht mehr aufgetaucht, und Robert hatte bei der Polizei ihre Leiche identifizieren müssen.
    Vor einer Woche. Es war, als liege eine Welt, ein Leben, eine Unendlichkeit dazwischen.
    In all der Qual der vergangenen Tage erschien Claire Cunningham dieser Sonntagmorgen als besonders quälend. Der Ablauf der Stunden, wie er sich genau sieben Tage zuvor gestaltet hatte, stand ihr ständig vor Augen.
    Um diese Zeit bin ich aufgestanden. Jetzt war ich in der Küche und bereitete das Frühstück vor. Ungefähr jetzt tauchte Rachel in der Küche auf. In ihrem hellblauen Schlafanzug mit dem Pferdekopf vorn auf der Brust. Ich habe geschimpft, weil sie barfuß war und die Steinfliesen in der Küche immer so kalt sind. Habe ich richtig geschimpft? Nein. Ich war ein bisschen ungehalten, weil ich ihr tausendmal gesagt hatte, sie soll morgens ihre Hausschuhe anziehen. Weil sie so leicht eine Halsentzündung bekommt. Weil sie so leicht eine Halsentzündung bekam. Wir hatten keinen Streit. Ich sagte nur, verflixt, Rachel, musst du schon wieder ohne Schuhe herumlaufen? Wie oft soll ich dir sagen, dass der Boden zu kalt ist? Sie brummte irgendetwas. Ging wieder hoch in ihr Zimmer, kehrte in Hausschuhen zurück. Wir stritten nicht, nein. Ich schimpfte nicht. Es war nicht so, dass ich an ihrem letzten Tag mit ihr geschimpft hätte.
    Sie hatte zuvor gar nicht an diese Episode gedacht. An die Hausschuh-Episode. Sie war ihr erst nach der gestrigen Begegnung mit Liz Alby eingefallen. Weil Liz nicht hatte aufhören können, sich wegen des Karussells anzuklagen. Offenbar hatte sie ihrer kleinen Tochter nicht nur den Wunsch nach einer Runde auf dem Karussell abgeschlagen, sie war auch sehr unfreundlich und gereizt wegen Sarahs Gequengel gewesen.
    »Wenn ich wenigstens wüsste, sie ist in ihren letzten Stunden glücklich gewesen«, hatte Liz gesagt, als sie in dem kleinen Cafe am Marktplatz einander gegenüber saßen. Liz hatte einen Kaffee getrunken, Claire hatte sich nur einen Tee bestellt. Essen mochten sie beide nichts. Claire hatte seit Rachels Verschwinden ohnehin fast nichts mehr zu sich genommen. Ihr Magen fühlte sich an, als sei er fest verschlossen. »Wissen Sie, Claire, wenn ich sie vor mir sehen könnte, wie sie auf dem Karussell sitzt und laut schreit vor Glück, und ihre Haare fliegen im Wind. Es wäre leichter.« Dann war sie in Tränen ausgebrochen. Claire hätte ebenfalls gern geweint, aber sie konnte nicht. Sie saß nur wie erstarrt da, rührte mit mechanischen Bewegungen in ihrer Teetasse. Sie wusste, dass Ströme von Tränen darauf warteten, endlich aus ihr herausbrechen zu können, aber seit sie die Gewissheit hatte, dass Rachel nicht mehr wiederkommen würde, war es ihr nicht gelungen, zu weinen. Es war genau wie mit ihrem Magen: Die Tränen waren eingeschlossen, eingesperrt hinter irgendeiner Tür, die sich um keinen Millimeter bewegte. Claire wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass die Tür aufging. Es gab Momente, da sie sich vorstellen konnte, dass die Tränen sie erleichtern würden. Aber in weit stärkerem Maß hegte sie Angst vor dem, was sie jenseits der Starre erwartete. Sie litt, wie sie noch nie in ihrem Leben gelitten hatte, und doch wusste sie, dass sie mit dem ganzen Ausmaß ihres Schmerzes noch gar nicht in Berührung gekommen war. Er lauerte dort, wohin eine gnädige Macht sie noch nicht gelangen ließ.
    Sie war nicht sicher, ob ihr die Begegnung mit Liz Alby

Weitere Kostenlose Bücher