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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Jahre ausschließlich bei seinem Schwiegervater durchgeschnorrt und nach dessen Tod auch noch Livia um alles gebracht, was eigentlich ihr gehörte. Das ist die feine Art dieses Schmarotzers! Aber wen interessiert das, wenn er im Bett gut ist! Stimmt's?«
    »Was soll ich dazu sagen?«, fragte sie hilflos.
    »Willst du das von mir wissen?«, schrie er.
    Dann knallte er den Hörer auf die Gabel.
    Er starrte das Telefon an, als könne ihm der unschuldige schwarze Apparat irgendeine Erklärung für die Ungeheuerlichkeiten geben, die er gehört hatte, aber natürlich blieb er stumm. Wie das ganze Zimmer, das ganze Haus. Niemand sagte: Das war ein Traum, Frederic. Ein böser, schlimmer Traum. Oder ein Scherz. Ein verdammt schlechter Scherz, klar, aber doch nur ein Scherz. Das alles ist nicht wirklich passiert.
    Er ließ sich auf das Sofa fallen, stützte den Kopf in die Hände. Es war wirklich passiert, und vielleicht hatte er begonnen, die Wahrheit zu ahnen, als er noch auf dem Bahnhof in London stand und Virginia nicht erschien. Ja, er wusste es genau, er hatte so etwas geahnt. Seit er erfahren hatte, dass Nathan Moor in Ferndale House abgestiegen war, ohne dass ihm Virginia sofort davon erzählte, war jene dumpfe, abgründige Ahnung in ihm erwacht, nur hatte er ihr nicht erlaubt, Besitz von ihm zu ergreifen. Manche Dinge waren so unerträglich, dass es einem selbst dann gelang, sie nicht zu sehen, wenn sie in schreiend roter Farbe vor einem an der Wand standen. Er hatte immer geglaubt, er sei schlecht im Verdrängen. Diese Ansicht schien er revidieren zu müssen: Er war ein exzellenter Verdränger.
    Er hob den Kopf, starrte zum Fenster hinaus in die dunkle Wand von Bäumen. Die Bäume, an denen Virginia festgehalten hatte, die wie ein Sinnbild für ihr seltsam verschlossenes, melancholisches Wesen waren. Eben gerade am Telefon hatte sie anders geklungen. Keine Spur mehr von der Traurigkeit, die sie zu jeder Minute umgeben hatte, seit er sie auf jener Zugfahrt durch die frühe winterliche Dunkelheit angesprochen hatte. Er hatte damals erfahren, dass ihr langjähriger Lebensgefährte sie verlassen hatte und unauffindbar untergetaucht war, weil er sich die Schuld am tragischen Tod eines kleinen Jungen aus der Nachbarschaft gab. Er hatte es als verständlich und natürlich empfunden, dass sie wegen dieser Geschichte viel grübelte und häufig in sich gekehrt und traurig war. Irgendwann hatte er sich so an ihren Kummer gewöhnt, dass er gar nicht mehr darüber nachgedacht hatte, ob es eigentlich normal war, dass dieser über Jahre anhielt. Der Kummer war einfach ein Teil von Virginia gewesen, etwas, das zu ihr gehörte, wie ihre Arme und Beine, ihre blonden Haare und ihre dunkelblauen Augen. Virginia war eben oft unglücklich. Mied andere Menschen. Lebte in einem Haus, das so sehr von Bäumen zugewuchert wurde, dass man selbst an sonnigen Sommertagen das Licht in den Räumen einschalten musste. Er hatte sich über all das niemals wirklich gewundert.
    Hätte er sich wundern müssen? Hätte er mit ihr sprechen müssen? Konnte er sich Gleichgültigkeit vorwerfen, Blindheit? Er hatte ihre andauernde, einmal stärker, dann weniger stark ausgeprägte Depression durchaus bemerkt. Wäre er verpflichtet gewesen, nachzuforschen, ihr Hilfe anzubieten? Natürlich hatte er sie oft gefragt, ob es ihr gut gehe. Ihre Antwort, alles in Ordnung, hatte ihn zufrieden gestellt, obwohl er, wie ihm jetzt klar wurde, immer gespürt hatte, dass auf irgendeine Weise eben nicht alles in Ordnung gewesen war. Aber es war bequemer gewesen, sich mit dieser Auskunft zufrieden zu geben, als Nachforschungen anzustellen. Ihr alles in Ordnung in den Ohren, war er wieder und wieder für lange Tage nach London abgereist, um seine politische Karriere voranzutreiben. Musste er sich das vorwerfen?
    Es ist, verdammt, kein Grund, mit einem anderen Mann ins Bett zu steigen, dachte er. Wir sind verheiratet, wir haben ein Kind zusammen. Wenn sie unglücklich mit mir war, hätte sie mir das sagen müssen. Wir hätten reden können. Eine Eheberatung aufsuchen. Was weiß ich. Wir hätten kämpfen können. Aber man darf doch nicht einfach abhauen!
    Und überhaupt schien es ihm völlig absurd, dass ausgerechnet der Hochstapler Nathan Moor, der Pleitegeier und Habenichts, der Aufschneider vom Dienst, innerhalb weniger Tage den Weg zu Virginias Seele gefunden haben sollte. Zu jenem Ort, an dem ihre Traurigkeit geboren wurde. Zu jenem Ort, den er, Frederic, nie entdeckt hatte.

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