Das Echo der Schuld
anders gemacht an seiner Stelle?«
»Ich vermute, Livia hat nicht alles gesagt.«
»Keine Ahnung. Bist du nun ein erfolgreicher Schriftsteller oder nicht?«
»Wo sind die Untiefen in deinem Leben?«
»Und wo in deinem?«
Sie starrten einander an. Endlich sagte Nathan mit weicherer Stimme: »Wir sollten einander alles erzählen. Eine andere Chance haben wir nicht.«
Dankbar registrierte Virginia, dass die unerträgliche Spannung der letzten Minuten verschwunden war. Sie konnte wieder die Zärtlichkeit spüren, die Nathan für sie hegte, und sie fand ihre eigenen Gefühle für ihn wieder. Aber der Tag hatte sein Leuchten verloren. Sie hatten zum ersten Mal gestritten, sie hatte sich zum ersten Mal in seiner Gegenwart nicht mehr wohl gefühlt. Er hatte keinerlei Verständnis für ihre Situation gezeigt, und er hatte Livias Behauptung, was seine beruflichen Umstände anging, nicht abgestritten. Was höchstwahrscheinlich bedeutete, dass alles stimmte. Und auf einmal fragte sie sich auch, weshalb er gerade an diesem Abend, gerade im Moment ihres Nachhausekommens, auf einen Restaurantbesuch gedrängt und sie damit gestresst und unglücklich gemacht hatte. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass irgendetwas seine Laune schon vorher getrübt hatte, und im Grunde konnte es nur das Telegramm von Frederic gewesen sein. Das hieß aber, er hatte es, entgegen seiner Beteuerung, doch sogleich gelesen. Da der Umschlag nicht zugeklebt gewesen war, hatte er dies ohne Schwierigkeiten tun können. Er hatte sich geärgert und dann alles unternommen, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Sie in eine Lage zu manövrieren, in der sie am Ende mit dem Rücken zur Wand stand und gezwungen war, über Frederics Gefühle zu reden und ihn in Schutz zu nehmen. Was Nathan wiederum die Gelegenheit gegeben hatte, sie der Loyalität gegenüber ihrem Ehemann wegen anzugreifen. Als Erkenntnis blieb, dass seine unwahren Behauptungen über seinen Beruf zusammen mit der Möglichkeit, dass er das Telegramm gelesen hatte, nicht dazu angetan waren, das Vertrauen zwischen ihm und Virginia zu festigen. Sie musste daran denken, wie er sich ihre Adresse in Norfolk aus den Schubladen gesucht hatte, und ihr fiel auch der Morgen ein, an dem er mit ihrem alten Foto in der Hand aufgekreuzt war.
Er ist einfach anders als ich, dachte sie, offenbar empfindet er in diesen Dingen anders. Das heißt nicht, dass er ein unehrlicher, betrügerischer Mensch ist.
Er lächelte. Es war das alte Lächeln, das sie stets mit dem Gefühl von Wärme erfüllte.
»Wir fahren morgen nach King's Lynn zurück«, sagte er, »wenn du das möchtest.«
Sie holte tief Luft. »Ich werde dir alles über mich erzählen. Alles.«
Er nickte. »Und ich werde dir alles über mich erzählen »Muss ich Angst haben?«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Und ich?«
»Ja«, sagte sie und brach in Tränen aus.
Montag, 4. September
1
Noch zwei Wochen bis zu meinem Geburtstag, dachte Janie bedrückt.
Genau genommen war es sogar schon wieder ein Tag weniger. Am übernächsten Sonntag war es so weit. Und sie wusste immer noch nicht genau, wie das Ereignis gefeiert werden würde.
Heute war Montag, und somit bestand wieder die Chance, den netten Mann in dem Schreibwarengeschäft zu treffen. Obwohl es ja wirklich so aussah, als habe er ihre Verabredung vergessen. Oder er war ernsthaft sauer, weil sie damals nicht gekommen war. Sie hätte ihm so gern erklärt, dass es nicht ihre Schuld gewesen war, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, aber womöglich würde er ihr gar keine Gelegenheit dazu geben.
Janie seufzte. Sie streifte die Bettdecke zurück, schwang die Füße auf den Boden. Sie tappte zu ihrem Schreibtisch, zog die Schublade auf und kramte ganz vorsichtig die fünf Einladungskarten heraus, die sie noch immer weit hinten versteckt hielt. Sie hatte sie inzwischen so oft in die Hand genommen und angesehen, dass eine von ihnen bereits an einer Ecke eingeknickt war. Sie versuchte die Delle zu glätten. Wie schön, ach, wie schön wäre es, wenn sie sie bald beschriften und in ihrer Klasse verteilen könnte!
»Janie!« Von draußen vernahm sie die Stimme ihrer Mutter. »Erster Schultag! Du musst aufstehen!«
»Ich bin schon wach, Mum!«, rief Janie zurück.
Doris Brown öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. »Die Zeit des Trödelns ist vorbei! Beeil dich! Das Bad ist frei!«
»Okay!« Janie versuchte, die Karten unauffällig in die Schublade
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