Das Echo der Schuld
sie, »ich kann nicht mehr von dir lassen.«
Er hatte nichts erwidert, sie nur angesehen. Ein einziges Licht brannte in der dunklen Küche. Sie hatten Stunde um Stunde so gesessen, schweigend, einander an den Händen haltend. Irgendwann waren sie ins Wohnzimmer gegangen, hatten sich eng aneinandergeschmiegt auf das Sofa gekuschelt und zu schlafen versucht. Sie steckten noch in ihren Kleidern, und es war schmal und unbequem, und bis auf ein gelegentliches Wegdämmern schliefen sie nicht wirklich. Aber es war eine Nacht, die Virginia wie verzaubert schien. Als sie am nächsten Morgen mit steifen Knochen und schmerzendem Rücken aufstand, waren ihre Schuldgefühle gegenüber Frederic und vor allem Kim nicht kleiner geworden, aber die Sicherheit, dass Nathan ihr einziger Weg war, hatte sich noch mehr verfestigt.
Nun saß sie im Auto, hatte soeben vor Kims Schule gehalten, und als Kim fragte, ob sie am Nachmittag von ihrer Mutter auch abgeholt würde, war sie kurz versucht, ihr eine rasche, beruhigende Antwort zu geben. Doch dann dachte sie, wie wichtig es war, dass sie inmitten dieser Situation nicht auch noch das Vertrauen beschädigte, das Kim ihr trotz allem entgegenbrachte.
»Ich weiß nicht, ob ich dich abholen kann«, sagte sie. »Daddy kommt gegen fünf Uhr mit dem Zug aus London. Ich werde ihn wahrscheinlich am Bahnhof abholen müssen. Er hat kein Auto dort stehen.«
Frederic hatte ihr noch in der Nacht angekündigt, zwecks Klärung der Situation so schnell wie möglich nach Ferndale zu kommen und am nächsten Tag gegen fünf Uhr in King's Lynn einzutreffen. Den Wunsch, ihn am Bahnhof erwarten zu dürfen, hatte er ihr sofort abgeschlagen, aber Virginia spielte mit dem Gedanken, es dennoch zu tun. Irgendwie erschien es ihr klüger, ihrer beider erste Begegnung auf neutralem Boden stattfinden zu lassen. Auch hätte sie das Gespräch mit ihm gerne in einem Cafe oder Restaurant geführt, nicht daheim im Wohnzimmer. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb ihr dies leichter erschien. Vielleicht lag es an den Stunden und Tagen, die sie mit Nathan in Ferndale verbracht hatte. Das Haus atmete bereits ihrer beider Geschichte, obwohl es dort kein sexuelles Zusammensein zwischen ihnen gegeben hatte. Aber die vergangene Nacht wog für Virginia mehr als jede einzelne ihrer leidenschaftlichen Umarmungen auf Skye. In der vergangenen Nacht waren ihre Seelen verschmolzen. Sollte sie in wenigen Stunden auf demselben Sofa sitzen und mit Frederic reden?
»Aber wer holt mich dann ab?«, fragte Kim. Sie hatte bläuliche Schatten unter den Augen.
»Es wird ganz bestimmt jemand da sein«, versprach Virginia. »Vielleicht Grace, wenn es ihr besser geht. Vielleicht Jack, wenn er bis dahin zurück ist. Vielleicht …«
»Ja?«
»Vielleicht Nathan. Wäre dir das recht?«
Kim zögerte.
Virginia hakte nach. »Du magst Nathan doch, oder?«
»Er ist nett«, sagte Kim.
»Vielleicht holt er dich ab und geht mit dir irgendwo eine Schokolade trinken. Wie fändest du das?«
»Schön«, sagte Kim, aber sie klang nicht wirklich begeistert.
Virginia sah sie an. »Mein Kleines, ich … ich gehe nie wieder von dir weg. Das verspreche ich dir.«
Kim nickte. »Und Daddy?«
»Daddy muss manchmal nach London, das weißt du ja.«
»Aber er kommt dann immer wieder zu uns zurück?«, vergewisserte sich Kim.
»Du verlierst ihn nicht«, sagte Virginia, und dann schaute sie rasch zur Seite, weil ihr die Tränen in die Augen schossen.
Gott verzeihe mir, murmelte sie lautlos.
3
»Sie ist weg, und sie hat mein Geld genommen«, sagte Nathan. Er sah wütend aus, blass unter seiner Bräune. »Ich meine, das Geld, das du mir geliehen hast. Sie hat zehn Pfund zurückgelassen, aber mit dem Rest ist sie verschwunden.«
Virginia stand am Fuß der Treppe und starrte hinauf. »Livia ist weg?«
»Ihre Kleider – deine Kleider – hat sie auch mitgenommen. Sieht nach einer Abreise aus.«
»Die Kleider hatte ich ihr geschenkt. Das ist in Ordnung.«
Nathan kam die Stufen hinunter. »Ich vermute, sie versucht nach Deutschland zu reisen.«
»Ist das so seltsam?«, fragte Virginia. »Nach allem, was war? Ich verstehe, dass sie es hier nicht mehr aushält.«
»Ich stehe mit zehn Pfund da!«
»Nathan, das ist doch kein Problem! Du kannst jederzeit wieder Geld von mir haben.«
»Ich hatte gehofft, nichts mehr zu brauchen«, sagte er zornig. »Ich meine, es war ohnehin dein Geld, aber ich hoffte, dass es dabei nun bleibt! Kannst du dir vorstellen, wie
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