Das Echo der Schuld
Worten Keine Sorge förmlich fest. Ein schwerer Tag lag vor ihnen. Schwere Wochen. Eine schwere Zeit.
»Nathan«, sagte sie, »wir schaffen das. Ganz sicher.«
Er lächelte erneut. Diesmal nicht bitter, sondern zärtlich.
»Ich liebe dich«, sagte er.
4
Grace fühlte sich nicht gesund, aber es ging ihr ein bisschen besser. Sie hatte den ganzen Tag im Bett gelegen, war nur gelegentlich aufgestanden, um zur Toilette zu gehen oder sich einen frischen Tee zu machen. Sie war noch recht wackelig auf den Beinen, aber nicht mehr so schwindelig wie am Tag zuvor.
Und auch ihre Knochen schmerzten schon weniger. Das Schlimmste hatte sie überstanden.
Jack hatte zweimal angerufen und gesagt, er werde bis zum frühen Abend zurück sein. Selten hatte sie ihm so entgegengefiebert. Er war ein ruppiger Mensch, aber er konnte recht fürsorglich sein, wenn es anderen schlecht ging. Sicher würde er ihr etwas Schönes kochen und ihr den Fernseher ins Schlafzimmer tragen, dann konnte sie gemütlich im Bett liegen und sich den Liebesfilm ansehen, der an diesem Abend gezeigt werden sollte.
Sie war so froh und erleichtert, dass Kim noch in der Nacht wohlbehalten in die Arme ihrer Mutter zurückgekehrt war. Sie hätte es sich nie verziehen, wenn dem Kind etwas zugestoßen wäre, nur weil sie eingeschlafen war, anstatt auf sie aufzupassen. Aber trotz ihrer Grippe und ihrer fast lähmenden Angst um Kim war ihr die Brisanz des Moments noch durchaus bewusst gewesen. Dass zwischen Virginia Quentin und dem gut aussehenden Deutschen etwas lief, war so spürbar, dass die beiden ihre Gefühle füreinander auch in roter Leuchtschrift auf ein Transparent hätten schreiben und vor sich hertragen können. Livia Moor hatte ein Gesicht gemacht, als werde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Schneeweiß war sie gewesen, und ihre Lippen hatten gezittert. Aber sie hatte auch Angst vor ihrem Mann, das hatte Grace begriffen. Obwohl er sie so offensichtlich betrog, wagte sie es nicht, ihm eine Szene zu machen. Er hatte ihr einen Blick zugeworfen, der sie verstummen ließ. Er behandelte sie wie ein Stück Dreck, voller Verachtung und ohne die geringste Rücksicht auf ihre Gefühle. Grace fragte sich, weshalb sich Virginia Quentin mit einem Mann einließ, der eine andere Frau so offenkundig schlecht behandelte. Merkte sie das nicht? Oder glaubte sie, Nathan Moor sei mit ihr zusammen ein neuer Mensch? Grace, die gern tratschte, hätte sich zu gern mit ihren Freundinnen über den Fall ausgetauscht, aber abgesehen davon, dass sie sich zu schlecht fühlte, gab es einen weit gewichtigeren Hinderungsgrund: Es gehörte zu Graces eisernen Prinzipien, dass sie über ihre Familie nicht klatschte. Da konnte sein, was wollte, über ihre Lippen würde kein Sterbenswörtchen kommen. Vom möglichen Ende des glücklichen Ehepaares Frederic und Virginia Quentin würden die Menschen in King's Lynn vielleicht durch die Regenbogenpresse erfahren, nichts jedoch von Grace Walker.
Es war vier Uhr. Grace stand im Bademantel am Fenster und blickte hinaus. Es regnete noch immer. Was für ein schrecklicher September das war in diesem Jahr! Keine spätsommerlichen Tage mit klarer, warmer Luft, blauem Himmel und leuchtend bunten Gärten. Nur Regen und Nebel. Novemberstimmung. Kein Wunder, dass sie sich diese heftige Erkältung zugezogen hatte! Grace hasste es, sich schwach und elend zu fühlen; in ihrer zupackenden, energischen Art fand sie kaum etwas so ärgerlich, wie hilflos und matt in der Ecke liegen und die Stunden des Tages vertrödeln zu müssen. Sie bewegte sich gern, liebte es, das Haus und den Garten in Ordnung zu halten, schöne Dinge zu kochen und zu backen, die Wäsche säuberlich zu bügeln und in die mit kleinen Lavendelsträußen versehenen Schubfächer der Schränke zu räumen. Sie sorgte gern für andere, kümmerte sich. Sie hätte es sich gut vorstellen können, mindestens sechs Kinder zu haben und ihnen eine fürsorgliche Mutter zu sein, aber am Anfang ihrer Ehe war das Geld immer so knapp und Jack ständig mit dem Lastwagen unterwegs gewesen. Sie hatten auf günstigere Lebensumstände gewartet, aber als sie dann tatsächlich günstiger wurden, war Grace schon Mitte vierzig gewesen und nicht mehr schwanger geworden. Oft dachte sie, dass ihre Kinderlosigkeit immer wie ein Schatten über ihrem ansonsten glücklichen Leben liegen würde. Wie gut, dass sie wenigstens eine Art Großmutter für die kleine Kim sein durfte!
Doch während sie hinaus in den
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