Das Echo der Schuld
Menschen zu kümmern, all das zu tun, was für diese Woche auch vor dem Eintritt der Katastrophe auf seinem Programm gestanden hatte. Es war weniger die Sorge um seine Karriere, die ihn dazu trieb, eher der Versuch, nicht vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hätte er sich in seine Wohnung gesetzt und die Wände angestarrt, hätte er den Verstand verloren oder sich ständig sinnlos betrunken. Er musste in der Struktur eines ganz gewöhnlichen Tagesablaufs bleiben, das war seine einzige Chance.
Chance worauf?, fragte er sich. Nicht verrückt zu werden? Herauszufinden, was er tun sollte? Den Schmerz niederzuringen? Hass und Wut und Verzweiflung in sich nicht dominieren zu lassen?
Etwas von all dem. Vor allem aber war es die Chance, nicht ununterbrochen grübeln zu müssen. Wenigstens dann, wenn er einem Gesprächspartner gegenübersaß und sich auf dessen Anliegen konzentrieren musste, hörte die Mühle in seinem Kopf auf, sich zu drehen.
An diesem Abend jedoch hielt er das Gerede, das Gelächter, die Heiterkeit, die Scherze fast nicht mehr aus. Zu groß war die Diskrepanz zu dem, was sich in seinem Inneren abspielte.
Um kurz nach zehn erklärte er, unter starken Kopfschmerzen zu leiden, was niemanden verwunderte, denn seine Schweigsamkeit, seine Geistesabwesenheit waren den anderen die ganze Zeit über schon aufgefallen. Er nahm ein Taxi, ließ sich durch die Nacht fahren, die von den tausend verschiedenen Lichtern der Großstadt erleuchtet wurde. Den ganzen Tag lang hatte er sich um Möglichkeiten gerissen, sich abzulenken. Jetzt auf einmal sehnte er sich danach, sich in seiner Wohnung zu verkriechen. Wie ein krankes Tier in seiner Höhle.
Er hörte das Telefon klingeln, als er gerade den Schlüssel ins Türschloss steckte. Das Schloss klemmte, hektisch fingerte er daran herum. Mit einem Sprung war er am Apparat.
»Ja?«, fragte er, bemüht, nicht atemlos zu klingen. Er ärgerte sich über die Inbrunst, mit der er hoffte, es handele sich bei dem Anrufer um Virginia, aber zugleich glaubte er nicht, dass sie sich bei ihm melden würde. Er war tief erstaunt, als er ihre Stimme hörte.
»Frederic? Ich dachte schon, du bist nicht da. Ich wollte gerade wieder auflegen.«
»Oh … Virginia. Ich bin eben erst nach Hause gekommen.« Sie soll ruhig glauben, dass ich ein ganz normales Leben führe und keineswegs zu Tode verletzt herumsitze, dachte er und fand sich selbst dabei kindisch.
»Ich war mit Bekannten beim Essen«, erklärte er.
»Ich bin in Ferndale«, sagte Virginia. Übergangslos setzte sie hinzu: »Kim ist verschwunden.«
»Was?«
»Grace hat sie von der Schule abgeholt, sich dann aber wegen ihrer Grippe ins Bett gelegt. Als sie ein paar Stunden später aufwachte, war Kim verschwunden.«
»Das gibt es doch gar nicht!«
»Sie ist fort. Ich bin schon an allen möglichen Orten im Park gewesen, aber nirgends gibt es eine Spur von ihr. Ich bin völlig verzweifelt. Ich …«
»Ich komme sofort«, sagte Frederic.
Ihr Zögern war lautlos und doch so spürbar durch den Telefonapparat, dass Frederic nach einer Sekunde des Staunens begriff. Es überraschte ihn, wie intensiv der Schmerz war, trotz der Sorge um sein Kind.
»Verstehe«, sagte er, »dein Liebhaber ist da. Im Augenblick passe ich da vermutlich nicht ins Konzept.«
»Spielt das jetzt eine Rolle?«
»Warum soll ich dann nicht kommen?«
Sie klang erschöpft und deprimiert. »Ich habe nicht deswegen gezögert«, sagte sie, »es war nur …«
»Ja?«
»Ich war … ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein soll oder nicht. Ich hatte gefürchtet … dass Kim bei dir ist. Offensichtlich ist sie es nicht, aber wenigstens wüsste ich sie dann in Sicherheit.«
Jetzt war er für einen Moment sprachlos. »Du dachtest, sie ist bei mir?«, fragte er dann.
»Ja.«
»Weshalb sollte sie hier sein? Weshalb sollte ich sie einfach mitnehmen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen?«
Sie atmete tief. »Um mir meinen Ausflug nach Skye heimzuzahlen«, sagte sie.
Während er um Fassung rang, völlig perplex, mit einer solchen Anschuldigung konfrontiert zu werden, sagte Virginia: »Ich werde jetzt die Polizei anrufen. Sie müssen sofort etwas unternehmen.«
»Du glaubst, ich fahre schnell von London nach King's Lynn, hole mir irgendwie unbemerkt Kim aus dem Haus der Walkers, rase mit ihr nach London zurück, nur um auf diese abartige Weise mit meiner Kränkung fertigzuwerden?«
»Es ist doch jetzt gleichgültig, was ich geglaubt habe. Wichtig ist
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