Das Echo der Schuld
nach Ihnen sehen!«
Durch das Fenster konnte sie Mrs. O'Brian entdecken, die im Garten Wäsche aufhängte. Hoffentlich ließ sie sich noch eine Weile Zeit damit. Es war ihr lieber, mit Livia allein zu sein.
Sie setzte sich ihr gegenüber und betrachtete sie. Livia trug einen Morgenmantel, der offenbar Mrs. O'Brian gehörte; er war mit einem grellfarbenen Schottenmuster bedruckt und viel zu kurz. Mrs. O'Brian war ziemlich klein, während Livia groß, aber sehr mager war.
»Ich habe Ihnen etwas zum Anziehen mitgebracht«, sagte Virginia, »die Tasche ist draußen im Auto. Ich gebe sie Ihnen nachher. Wir haben ja ungefähr die gleiche Größe. Die Sachen von Mrs. O'Brian sind Ihnen jedenfalls eindeutig zu kurz.«
Livia, die bislang geschwiegen hatte, öffnete endlich den Mund. »Danke.«
»Das ist doch selbstverständlich. Ist der Tee in Ordnung? Dann sollten Sie noch etwas trinken. Das ist jetzt wichtig.«
Virginia wusste nicht genau, weshalb sie das sagte, aber heißer Tee erschien ihr in komplizierten Lebenssituationen immer wichtig. Sie holte auch für sich einen Becher, schenkte ihnen beiden ein, rührte ein wenig Zucker hinein. Livia war wie ersinnt. Im Augenblick schien man jeden Handgriff für sie tun zu müssen.
»Möchten Sie darüber sprechen?«, fragte Virginia.
Livia wirkte unschlüssig. »Es … es war so … schrecklich«, brachte sie nach einer Weile hervor. »Das … Wasser … Es war so kalt.«
»Ja. Ja, das kann ich mir vorstellen. Es tut mir so entsetzlich leid, dass Ihnen das passieren musste. Sie konnten … nichts retten?«
»Nichts. Gar nichts.«
»Aber Ihr Leben. Und das ist das Wichtigste.«
Livia nickte, aber sie wirkte dabei nicht überzeugt. »Wir … haben nichts mehr.«
Virginia wiederholte: »Sie haben Ihr Leben!« Doch gleichzeitig dachte sie, dass sich dies leicht dahinsagen ließ. Hätte sie selbst all ihr irdisches Hab und Gut verloren, könnte man sie mit dem Hinweis aufs nackte Überleben womöglich auch nicht trösten.
Frederic fiel ihr ein, und sie fragte vorsichtig: »Waren Sie … sind Sie versichert?«
Livia schüttelte langsam den Kopf. »Nicht … was unseren eigenen Schaden betrifft.« Sie sprach schleppend. Und plötzlich schaute sie an sich herab, an dem häßlichen, grellfarbenen Bademantel, und die Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich hasse dieses Ding! Es ist so scheußlich! Ich hasse es, so etwas tragen zu müssen!«
Virginia wusste, dass es derzeit größere Probleme für Livia gab als die Kleiderfrage, aber sie verstand den Ausbruch dennoch. Der unschöne, viel zu kurze Bademantel stand für den ganzen gewaltigen Verlust, den sie erlitten hatte, für die Abhängigkeit, in die sie unvermittelt geraten war. Für die Armut und für den Umstand, auf die Mildtätigkeit fremder Menschen angewiesen zu sein.
»Ich hole Ihnen gleich meine Sachen«, sagte Virginia und wollte aufstehen, aber Livia rief fast panisch: »Nicht! Gehen Sie nicht weg!«
Virginia setzte sich wieder.
»Okay. Ich bleibe, solange Sie mögen. Ich kann die Tasche auch nachher holen.« Sie sah sich um. »Wo ist denn eigentlich Ihr Mann?«
»Oben. In unserem Zimmer. Er telefoniert mit einem Anwalt in Deutschland. Aber … wie will er jemanden verklagen? Wir wissen doch gar nicht, wer es war!«
»Vielleicht läßt sich das ja noch herausfinden. Sicher weiß die Küstenwache, wer hier zu welcher Zeit vorbeischippert. Ich kenne mich da nicht aus, aber … Geben Sie doch noch nicht auf, Livia! Ich verstehe, dass Sie jetzt nur verzweifelt und geschockt sind, aber …«
Livia unterbrach sie mit leiser Stimme: »Wir können nicht mal das hier bezahlen.« Sie machte eine Kopfbewegung zum Fenster, in Richtung Mrs. O'Brian. »Die möchte doch irgendwann Geld für das Zimmer. Und unser Essen. Und das Telefon. Ich meine«, sie begann schon wieder zu weinen, »ich habe Nathan gesagt, er soll nicht telefonieren, aber schon seit einer Stunde telefoniert er mit Gott und der Welt, und dann auch noch ins Ausland! Das ist doch verrückt! Mrs. O'Brian wird uns doch nichts schenken. Aber wir haben kein Geld! Absolut kein Geld!«
»Sie haben kein Bankkonto mehr in Deutschland?«
»Nathan hat alles aufgelöst. Er nannte das >die totale Freiheit< Ohne Geld zu sein und sich in den verschiedenen Häfen mit Gelegenheitsjobs durchzubringen. Er hat das Haus verkauft, das, in seinem baufälligen Zustand und dazu noch mit einer großen Hypothek belastet, aber nicht allzu viel eingebracht hat. Er hat die Konten
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