Das Echo der Schuld
nachdem sie, aus dem kalten Wasser kommend, fast zwölf Stunden in der Rettungsinsel hatten ausharren müssen. Man hatte sie zu einem Arzt gebracht. Seit dem gestrigen Tag seien sie in einem Bed&Breakfast- Hotelnahe Portree untergebracht.
»Also, das werden doch nicht …«, sagte Virginia zu sich selbst, sprach den Satz aber nicht zu Ende. Wie viele deutsche Ehepaare, die in einem Segelboot auf Weltreise waren, gab es derzeit auf den Hebriden?
Sie vernahm Frederics Schritte auf der Treppe, stand automatisch auf, holte eine zweite Tasse, füllte sie mit Kaffee und Milch. In den Ferien leisteten sie sich den Luxus, den Morgen mit Kaffee und Geplauder zu vertrödeln. Sie redeten über das Wetter, über irgendwelche Neuigkeiten aus dem Dorf, manchmal auch über Bekannte oder Verwandte. Sie gingen vorsichtig miteinander um und mieden ihre Beziehung als Gesprächsthema, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund gegeben hätte. Gerade an diesen Urlaubsmorgen, aber manchmal auch daheim in Norfolk, konnte Virginia plötzlich von einem Gefühl des Friedens und der Dankbarkeit durchströmt werden, wenn sie sich selbst betrachtete, zusammen mit Frederic, die kleine Kim, die so hübsch und so liebenswert war, dieses Leben ohne materielle Sorgen in einer geordneten, überschaubaren Welt, die enge Grenzen haben mochte, aber dafür ohne Gefahren, Ängste und Dämonen war. Es gab ein paar wenige Momente, in denen Virginia das sichere Gefühl, dass ihre Welt nicht völlig real war, als beklemmend empfand, aber es waren tatsächlich nur Momente, Augenblicke, die schnell vergingen.
Frederic kam zur Tür herein. Daheim sah sie ihn fast nur in Anzug und Krawatte, aber sie mochte es besonders, wenn er so aussah wie jetzt, in Jeans und grauem Rollkragenpullover, ausgeschlafen und entspannt, ohne den etwas verbissenen Zug um den Mund, den er sonst oft trug, weil ihn sein Beruf und alle seine Karrierepläne stets etwas überanstrengten.
»Guten Morgen«, sagte er und fügte, obwohl die Antwort klar war, die Frage hinzu: »Du bist schon gelaufen heute früh?«
»Es war wunderbar. Wie leben andere Menschen, ohne sich richtig zu bewegen?« Sie reichte ihm seine Kaffeetasse, er setzte sich und nahm den ersten Schluck.
»Nur noch heute«, sagte er, »dann müssen wir zurück. Oder möchtest du mit Kim noch ein wenig bleiben?«
Es waren noch zwei Wochen, bis die Schule begann. Und sie liebte es, hier oben zu sein. Auch Kim liebte es. Dennoch schüttelte Virginia den Kopf.
»Wir kommen mit. Glaubst du etwa, ich lasse dich allein?«
Er lächelte. Er war so oder so viel allein, zumindest war er ohne seine Familie. Er verließ das Haus morgens um halb acht. Oft kam er nicht vor zehn oder halb elf am Abend zurück. Tagelang hielt er sich in London auf, wo sich seine Bank befand. In Norfolk war er eigentlich nur, wenn es die politische Arbeit in seinem Wahlkreis erforderte. Seine Tochter sah er manchmal die ganze Woche über nicht. Seine Frau im Vorbeilaufen oder abends, wenn sie auf ihn gewartet hatte und noch zehn Minuten mit ihm plauderte, ehe er todmüde ins Bett fiel.
Es war nicht so, dass er diesen Zustand besonders geschätzt hätte. Und bis vor zwei Jahren war es auch ganz anders gewesen. Da hatten Virginia und Kim noch bei ihm in London gelebt, und er hatte sich viel mehr als Teil einer Familie gefühlt als derzeit. Nicht dass Virginia die elegante Wohnung in South Kensington häufig verlassen hatte, um etwas mit ihm zu unternehmen. Er kannte sie nur als einen Menschen, der zum Rückzug neigte, dazu, sich gegen die Außenwelt abzuschirmen. Weniger aus Angst, wie ihm schien. Nach seinem Eindruck hatte es etwas mit der Melancholie zu tun, die fast immer über ihr lag, mal stärker, fast an eine Depression grenzend, dann auch wieder schwächer. Sie hatte diese Krankheit – Frederic bezeichnete es insgeheim als Krankheit – offensichtlich besser im Griff, wenn sie allein war. Dass sie schließlich beschlossen hatte, in das ziemlich düstere, alte Herrenhaus der Quentins in Norfolk umzuziehen, war ihm geradezu folgerichtig erschienen, hatte aber in der speziellen Art von Familienleben resultiert, die sie nun führten.
Sie hatte ihm gegenüber Platz genommen. Ihre Wangen waren noch rosig von der frischen, kühlen Morgenluft.
»Du erinnerst dich bestimmt an diese junge Frau aus Deutschland, die uns hier in der letzten Woche ein bisschen in Haus und Garten geholfen hat«, sagte sie. »Livia. So hieß sie.«
Er nickte. Er erinnerte
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