Das Echo der Schuld
ab.
2
Es war nicht schwierig, herauszufinden, wo man das deutsche Ehepaar, das von dem großen Unglück heimgesucht worden war, untergebracht hatte. Der Schiffsuntergang war in aller Munde, und jeder wusste über jedes Detail Bescheid.
Sie fragte beim Gemischtwarenhändler am Hafen von Portree, und der konnte ihr auch sofort die gewünschte Auskunft geben.
»Bei den O'Brians sind sie! Guter Gott, was für ein Pech, oder? Ich meine, es ist schließlich gar nicht so einfach, auf dem Meer mit einem anderen Schiff zu kollidieren. Da muss schon viel zusammengekommen sein. Mrs. O'Brian war vorhin hier, um einzukaufen, und sie erzählte, die junge Frau stehe völlig unter Schock. Stellen Sie sich mal vor, die besitzt auf der ganzen Welt nichts mehr als ihren Schlafanzug! Ihren Schlafanzug! Das ist doch wirklich verdammt hart!«
Virginia wusste, dass der Gemischtwarenhändler heute jedem seiner Kunden von diesem bedauernswerten Umstand aus dem Leben der jungen Deutschen erzählen würde, und es war klar, dass auch Mrs. O'Brian alles, was sie von ihren Gästen mitbekam, gewissenhaft auf der ganzen Insel verbreiten würde. Plötzlich taten ihr die beiden auch noch in anderer Hinsicht als bisher leid. Nicht nur, dass sie etwas Schreckliches erlebt hatten, das ihnen vielleicht für den Rest ihres Lebens Alpträume bescheren würde; sie waren plötzlich völlig ausgeliefert und schutzlos: dem allgemeinen Mitleid ebenso preisgegeben wie der Sensationsgier.
Die O'Brians wohnten am Rande von Portree, und Virginia hätte sie zu Fuß erreichen können, aber sie hatte plötzlich keine Lust, auf den Straßen anderen Menschen zu begegnen und über die Schiffbrüchigen zu sprechen. Also nahm sie den Wagen. Wenige Minuten später parkte sie vor dem malerischen Backsteinhaus mit der rot lackierten Haustür und den weißen Fensterkreuzen. Mrs. O'Brian war eine leidenschaftliche Gärtnerin. Selbst unter den schwierigen klimatischen Bedingungen der Hebriden hatte sie es geschafft, einen Neid erregend üppigen Blumengarten vor ihr Haus zu zaubern. Virginia ging zwischen rostfarbenen Astern und leuchtend bunten Gladiolen entlang. Der Herbst kündigte sein Kommen unübersehbar an. Hier oben brach er früh herein. Ende September musste man schon mit den ersten großen Stürmen rechnen, und dann kam der Nebel, der Monate lang über den Inseln liegen würde. Virginia fand diese Stimmung reizvoll, was aber vielleicht daran lag, dass sie nicht hier lebte und den kalten, grauen Winter nicht, so wie die Bewohner der Insel, von Oktober bis April ertragen musste. Ein einziges Mal hatte sie Frederic überreden können, das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel im Ferienhaus zu verbringen, aber er hatte es schrecklich gefunden und sie gebeten, ihm dies nie wieder anzutun.
»Es gibt nicht viel auf dieser Welt, was mich in Depressionen treiben könnte«, hatte er gesagt, »aber dem Winter auf Skye könnte es durchaus gelingen.«
Schade, dachte sie nun, ich würde gern noch einmal im November oder Dezember hierher kommen.
Auf ihr mehrfaches Klopfen an der Tür reagierte niemand, und so öffnete sie sich schließlich selbst und trat in den schmalen Hausflur. Dies war auf der Insel durchaus üblich. Niemand schloss seine Türen ab, und wenn ein Besucher nicht gehört wurde, durfte er sich selbst einlassen. Man kannte einander gut genug, und nachdem schon Frederics Vater und sein Großvater mit ihren Familien in den Ferien hierher gekommen waren, galt die Familie Quentin als dazugehörig.
»Mrs. O'Brian!«, rief Virginia halblaut, aber sie bekam keine Antwort. Sie sah, dass die Küchentür am Ende des Ganges geschlossen war; vielleicht hielt sich Mrs. O'Brian dort auf und konnte sie nicht hören.
Aber als sie zögernd in die geräumige Küche mit dem Steinfußboden und den vielen blitzenden und blinkenden Kupfertöpfen an den Wänden trat, war es nicht die Hausfrau, die sie dort antraf. Dafür saß Livia am Tisch, eine große Tasse und ein Stövchen mit einer Kanne darauf vor sich. Die Tasse war leer, aber sie dachte offenbar nicht daran, sich etwas nachzuschenken. Teilnahmslos starrte sie auf die Tischplatte. Sie hob zwar den Kopf, als Virginia eintrat, aber in ihren Augen war keine Regung zu entdecken.
»Livia!«, sagte Virginia erschüttert. »Mein Gott, ich habe gehört, was Ihnen und Ihrem Mann zugestoßen ist! Da dachte ich …« Sie sprach nicht weiter, sondern ging stattdessen auf Livia zu und nahm sie in die Arme. »Ich musste einfach
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