Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
worden.
    Davongelaufen hieß Hoffnung.
    »Also, drei oder vier Runden auf dem Karussell würden jetzt auch nichts ändern«, meinte Mike pragmatisch. Er fischte eine Zigarette aus seiner Jackentasche, schaffte es aber erst nach vielen missglückten Versuchen, sie anzuzünden. Der Wind war zu stark.
    Er fluchte. »Scheißidee, ans Meer zu fahren! Es ist immer so blödsinnig kalt in England! Ich überlege, ob ich mich nach Spanien abseile.«
    »Und wovon willst du da leben?«
    »Irgendeinen Job findet man immer. In Spanien braucht man nicht viele Klamotten, da ist es immer warm. Und zur Not kann man auch mal draußen schlafen. Du, mir ist echt kalt. Entweder wir fahren gleich zurück, oder wir laufen ein Stück.«
    Liz wollte laufen. Sie dachte an die vielen verhängnisvollen Fügungen des Lebens. Hätte sie während Sarahs Ferien keinen Urlaub bekommen … Wäre es nicht ein so heißer Tag gewesen … Wäre Sarah nicht eingeschlafen …
    Hätte, wäre, wäre.
    »Wenn wir eine richtige Familie gewesen wären«, sagte sie, »von Anfang an … dann wäre Sarah noch da!«
    »He, Moment mal!«, sagte Mike. Er zog heftig an seiner Zigarette. »Du meinst allen Ernstes, es hätte etwas geändert, wenn wir geheiratet und den ganzen spießbürgerlichen Scheiß von Vater, Mutter, Kind gelebt hätten?«
    »Ja.«
    »Das ist doch ein riesengroßer Blödsinn! Das sind deine typischen unrealistischen Träumereien! Du hättest ganz genauso mit Sarah am Strand liegen können, ich wäre nicht dabei gewesen, weil ich gearbeitet hätte …«
    Was nun wirklich ein unrealistischer Gedanke ist, dachte Liz.
    »… und du hättest sie allein gelassen, und … Scheiße! Riesengroße Scheiße zum Schluss, so oder so!«
    Liz blieb stehen. »Hier war es. Schau mal, da ist sogar noch ihre Burg.«
    »Wie willst du denn wissen, dass das ihre Burg ist?«
    »Ich habe sie schließlich mit ihr gebaut. Und diese Höhle in der Wand, die hat Sarah gegraben. Da hatte sie ihre Sandalen reingelegt. Sie meinte, das wäre ein Geheimfach.« Ihre Stimme zitterte, die Tränen würgten sie. »In der letzten Zeit, weißt du … da hatte sie es immer mit Geheimfächern.«
    Mike starrte auf die Sandburg, die der Wind mehr und mehr abtrug. Einen Tag noch, und sie würde kaum mehr zu sehen sein. Er warf seine Zigarette in den Sand. »Verdammt«, sagte er leise.
    Dann sprachen sie beide nicht mehr, sondern betrachteten stumm den Ort, von dem ihr Kind verschwunden war, und später einmal wurde es Liz bewusst, dass diese Momente an einem windigen Augusttag in Hunstanton neben jener Nacht ihrer sexuellen Verschmelzung die einzigen Augenblicke wirklicher Nähe zwischen ihr und Mike darstellten. Und immer ging es dabei um Sarah. Beim ersten Mal hatten sie sie gezeugt. Beim zweiten Mal nahmen sie Abschied von ihr.
    Heute, zwei Wochen nach Sarahs Verschwinden, fuhr Liz noch einmal allein nach Hunstanton hinaus. Sie lief den ganzen Strand ab in der Hoffnung, wenigstens noch Überreste von der Burg zu finden, die Sarah gebaut hatte. Sie wusste gar nicht, weshalb ihr das plötzlich so wichtig erschien. Die Burg war das letzte Lebenszeichen von Sarah gewesen. Sie war etwas, woran man sich festhalten konnte.
    Aber der Wind hatte den kleinen Sandhügel abgetragen. Liz hätte nicht einmal mehr zu sagen gewusst, an welcher Stelle sie und Sarah gelegen hatten. Sie stand da, starrte über den Strand, schauderte im Wind und betrachtete fast teilnahmslos das Meer, das an diesem Tag so grau und düster war wie der Himmel darüber.
    Als sie nach Hause kam, sah sie bereits von weitem, dass ein Polizeiauto gleich vor der Haustür ihres Wohnblocks parkte. Sie rannte die letzten Meter, von Hoffnung ergriffen. Vielleicht hatten sie sie gebracht. Vielleicht saß sie schon oben in der Wohnung und schob sich gerade ein paar Schokoladenkekse in den Mund oder knuddelte ihre Barbiepuppe.
    Sie jagte die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie registrierte, dass Türen spaltbreit geöffnet wurden, dass man hinter ihr herschaute. Das Polizeiauto hatten die anderen Hausbewohner auch bemerkt. Man brannte auf Neuigkeiten.
    Sie brauchte zwei Anläufe, ehe sie den Schlüssel ins Türschloss gesteckt hatte, so sehr zitterten ihre Finger. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter – vor der Geräuschkulisse des Fernsehapparats natürlich: »Ich glaube, da kommt sie jetzt.«
    Es waren zwei Polizeibeamte, die aus dem Wohnzimmer zu ihr in den winzigen Flur traten; es kam fast zu einem Gedränge, und ihr

Weitere Kostenlose Bücher