Das Echo der Schuld
zur Imbissbude recht weit war – weiter, als Liz ihn damals zunächst eingeschätzt hatte. Zudem erinnerte sich der Verkäufer, dass die junge Frau, die ihm wegen ihrer Attraktivität aufgefallen war, ziemlich lange auf ihre Baguettes hatte warten müssen, da sich gerade eine größere Sportlergruppe mit Proviant versorgt hatte.
»Die junge Frau war sehr guter Laune«, erinnerte sich der Budeninhaber, »flirtete ganz schön heftig mit den jungen Männern. Ich meine, im Nachhinein wundert mich das schon. Wenn man bedenkt, dass sie ihr Kind allein zurückgelassen hatte … Also, da wäre man doch normalerweise etwas nervöser, oder?«
Irgendwie hatte sich jedenfalls das Bild der leichtfertigen, pflichtvergessenen Mutter schließlich auch bei den Polizisten verfestigt.
»Haben Sie Ihre Tochter denn oft allein gelassen?«, hatte einer der ermittelnden Beamten mit unüberhörbarer Verurteilung in der Stimme gefragt.
Liz hatte mit den Tränen gekämpft. Es war so ungerecht! Natürlich, Sarah war ihr alles andere als willkommen gewesen, und sicher war sie oft ruppig und ungeduldig mit der Kleinen umgegangen. Aber sie hatte sich um sie gekümmert. Sie hatte sie nie vorher unbeaufsichtigt irgendwo abgestellt, und gerade das wurde jetzt von allen offenbar angezweifelt.
Einmal! Ein einziges Mal! Und ausgerechnet da musste sie spurlos verschwinden!
Die Küstenwache hatte die Umgebung abgesucht und nichts gefunden. Es hatte Befragungen unter den Urlaubern am Strand gegeben, aber niemand hatte ein kleines Kind allein am Wasser gesehen. Überhaupt war Sarah offenbar niemandem aufgefallen. Spürhunde durchkämmten tagelang das Gebiet um den Strand, ohne auf eine Spur zu stoßen. Als hätte der Erdboden Sarah verschluckt, einfach so, ohne großes Aufsehen. Als wäre plötzlich das eingetreten, was sich Liz immer insgeheim – und manchmal auch deutlich ausgesprochen – gewünscht hatte: Es gab Sarah nicht mehr.
»Das musste ja irgendwann so kommen«, war Betsy Albys Kommentar zu der Situation gewesen. »Dass du zu blöd bist, ein Kind aufzuziehen, war mir gleich klar. Und jetzt? Jetzt ist der Katzenjammer groß, wie?«
Liz war nicht dumm, sie begriff durchaus, dass auch sie einen Platz unter den Verdächtigen bei der Polizei einnahm. Niemand sagte das direkt, aber aus der Art mancher Fragen wurde es ihr deutlich. Die wußten längst, wie sie mit ihrem Schicksal, ungewollt Mutter geworden zu sein, gehadert hatte. Und natürlich geriet auch Mike Rapling, der Kindsvater, ins Visier der Polizei.
»Es gibt Väter, die entführen ihre Kinder, weil sie darunter leiden, zu wenig Umgang mit ihnen zu haben«, hatte eine Beamtin gesagt, mit der Liz am zweiten Tag nach Sarahs Verschwinden gesprochen hatte. Da jedoch hatte Liz zum ersten Mal seit dem Unglück – in Gedanken nannte sie es einfach das Unglück, weil das besser klang als mein Versagen – gelacht, wenn es auch kein freudiges Lachen gewesen war.
»Also, das können Sie bei Mike vergessen! Der hat Sarah vielleicht viermal in ihrem Leben gesehen, und das auch nur, weil ich ihm mit ihr die Bude eingerannt habe. Der hätte sie jedes Wochenende haben können, ich habe ihn angefleht darum. Der hatte aber absolut keinen Bock auf sein Kind. Dem hätte ich Geld anbieten können, und er hätte sich nicht um Sarah gekümmert!«
Mike wurde dennoch überprüft, hatte jedoch für die fraglichen Stunden ein unbestreitbares Alibi: Er hatte auf einer Polizeiwache gesessen, weil er mit einem enorm hohen Promillewert im Blut aus dem Straßenverkehr gezogen worden war. Das Gespräch mit ihm bestätigte zudem das Bild, das Liz von ihm gezeichnet hatte. Mike Rapling hatte seine Energien ausschließlich darauf gerichtet zu vermeiden, die kleine Sarah »aufs Auge gedrückt« zu bekommen, wie er es nannte. Eine Entführung des Kindes wäre ihm nicht in den Sinn gekommen.
»Liz hätte mir die Kleine mit dem größten Vergnügen für immer überlassen«, hatte er erklärt, »aber ich bin doch nicht blöd, Mann! Ich hab Sarah nicht mal für eine Stunde übernommen, solche Angst hatte ich, dass Liz sie dann nicht mehr abholt!«
Mit jedem Gespräch, das Liz mit den Polizeibeamten führte, konnte sie spüren, wie die Abneigung der Ermittler gegen sie stieg. Das Bild, das von der kleinen Sarah entstand, war nur allzu deutlich und grausam: Es war das eines Kindes, das von niemandem gewollt wurde, das von der ersten Minute seines Lebens an von jedem Menschen in seiner Umgebung abgelehnt worden war.
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