Das Echo der Schuld
Von seiner Mutter, seinem Vater, seiner Großmutter. Ein Kind, das jedem im Weg gewesen war, für dessen Wohlergehen sich niemand wirklich verantwortlich fühlte.
Die haben ja alle keine Ahnung, dachte Liz.
Es waren zwei Wochen seit Sarahs Verschwinden vergangen, und Liz hatte in der Zeit fünf Kilo an Gewicht verloren und kaum eine Nacht geschlafen. Sie quälte sich mit Selbstvorwürfen und fragte sich, wo ihr Kind sich aufhalten mochte und ob es vielleicht voller Angst und Verzweiflung nach ihr suchte. Wie oft hatte sie Sarah zum Teufel gewünscht, und nun war sie wirklich verschwunden! War das die Strafe für ihre bösen Gedanken, für die vielen Male, da sie Sarah ungerechtfertigt angeschrien und beschimpft hatte?
Wenn sie wiederkommt, schwor sie sich, werde ich alles anders machen. Ich werde nett zu ihr sein. Ich werde ihr hübsche Kleider kaufen. Ich werde mit ihr nach Hunstanton fahren, und sie darf ganz viele Runden auf dem Karussell drehen. Ich werde sie nie mehr unbeaufsichtigt lassen!
Am vierten Tag nach Sarahs Verschwinden hatte sie Mike angerufen, weil sie glaubte, verrückt zu werden, wenn sie nicht endlich von irgendeinem Menschen etwas Tröstliches zu der ganzen Situation hörte. Von ihrer Mutter war dergleichen nicht zu erwarten: Die zeterte nur herum und erklärte, das alles habe ja kein gutes Ende nehmen können, wobei unklar blieb, was sie mit das alles meinte.
Zu Liz' Erstaunen war Mike sofort am Apparat gewesen. »Ja ?«
»Ich bin es, Liz. Ich wollte nur … es geht mir gar nicht gut, weißt du.«
»Was Neues von Sarah?«, fragte Mike und gähnte unverhohlen. Es war halb zwölf am Vormittag, dennoch kam er offenbar gerade erst aus dem Bett.
»Nein. Nichts. Es gibt keine Spur. Und ich … Mike, ich kann überhaupt nicht mehr schlafen und nicht mehr essen. Mir geht's echt beschissen. Meinst du nicht, wir könnten uns mal sehen?«
»Was soll das bringen?«, fragte Mike.
»Ich weiß nicht, aber … oh, Mike, bitte, hast du nicht ein bisschen Zeit? Bitte?«
Er hatte sich schließlich überreden lassen, mit ihr nach Hunstanton hinauszufahren und dort spazieren zu gehen, wobei er gleich darauf hinwies, dass er wegen seiner Alkoholeskapaden am Tag von Sarahs Verschwinden nicht mehr über seinen Führerschein verfügte und sie daher nicht mit dem Auto fahren konnten. Also nahmen sie den Bus, dieselbe Linie, mit der Liz wenige Tage zuvor in Begleitung ihrer kleinen Tochter ans Meer gefahren war. Sie hatte Mike lange nicht gesehen, und es berührte sie eigenartig, die große Ähnlichkeit zwischen ihm und Sarah zu erkennen. Früher hatte sie gar nicht so darauf geachtet, aber nun wurde ihr bewusst, dass Sarah ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Zwar hatte sie die dunklen Haare und Augen ihrer Mutter, aber Nase, Mund, Lächeln – all das fand sich bei Mike wieder. Seine Verwahrlosung schritt jedoch deutlich voran. Er war nicht mehr der hübsche Junge, in den sie sich verliebt und mit dem sie in einem leichtsinnigen Moment ein Kind gezeugt hatte. Seine Haare waren zu lang und sehr ungepflegt, er hatte sich offenbar seit Tagen nicht rasiert, und die Verdickungen unter seinen Augen wiesen darauf hin, dass der Alkohol ihm längst zum ständigen Lebensbegleiter geworden war.
Er hätte nie für Sarah und mich sorgen können, hatte sie gedacht.
Es war ein kühler, windiger Tag gewesen, und es hielten sich nur wenige Menschen am Strand auf. Liz musste mit den Tränen kämpfen, als sie aus dem Bus stiegen und vor ihnen das Karussell auftauchte – Sarahs letzter, heißer Wunsch.
»Hätte ich ihr nur ein paar Runden spendiert! Dann hätte ich jetzt wenigstens das Gefühl, dass sie noch etwas Schönes erlebt hat, bevor sie …«
»Bevor sie was?«, fragte Mike.
»Bevor sie davongelaufen ist«, antwortete Liz leise. Es war das Einzige, was sie denken und aussprechen konnte: dass Sarah davongelaufen war. Davongelaufen hieß, dass es sich um einen unbedachten Kinderstreich handelte. Sarah war losgetrabt, vielleicht auf der Suche nach ihrer Mum, vielleicht hatte sie auch zu dem Karussell gewollt. Dann hatte sie die Richtung verloren, den Rückweg nicht gefunden, sich gründlich verirrt. Das war schlimm, das war furchtbar, aber irgendwann würde irgendjemandem das umherirrende Kind auffallen, dann würde man die Polizei verständigen, und dann würde Sarah nach Hause gebracht werden, und das Drama wäre vorüber. Davongelaufen hieß: Sie war nicht ertrunken. Sie war nicht entführt
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