Das Echo der Schuld
mehr des Eindrucks erwehren, dass dies offenbar ganz und gar nicht in Ihrem Sinn ist. Warum sagen Sie dann nicht einfach, dass wir gehen sollen? Es gibt kaum etwas, das wir packen müssten. In drei Minuten wären wir verschwunden.«
Virginia wusste, dass es Frederic mit jeder Faser danach verlangte, die Fremden wieder loszuwerden, aber dass ihn sein gutes Benehmen daran hindern würde, seine Frau derart bloßzustellen.
»Wenn meine Frau Ihnen eine Unterkunft in diesem Haus angeboten hat«, sagte er, »dann steht Ihnen diese Unterkunft selbstverständlich zu. Bitte betrachten Sie sich als unsere Gäste.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Nathan.
Wenn Blicke töten könnten, dachte Virginia, wäre keiner von beiden jetzt noch am Leben. Da sie Skye so sehr liebte, hatte sie noch nie zuvor die Abreise von dort herbeigesehnt, sie, im Gegenteil, stets gefürchtet.
Jetzt hoffte sie von ganzem Herzen, die nächsten zwanzig Stunden wären bereits vorüber und sie befänden sich schon auf der Brücke, die nach Lochalsh auf dem Festland führte.
Dienstag, 22. August
Liz Albys Leben war seit dem Verschwinden ihrer Tochter zum Spießrutenlauf geworden. Jeder in der Nachbarschaft wusste Bescheid, nachdem Sarahs Foto in der Zeitung gewesen war und die Polizei in einem langen Pressebericht um die Mithilfe der Bevölkerung gebeten hatte. Man hatte die Umstände des Verschwindens der Kleinen einigermaßen taktvoll mit einer kurzen Abwesenheit der Mutter beschrieben, aber Liz spürte genau, mit wieviel Verachtung über sie getuschelt wurde. Eine kurze Abwesenheit der Mutter an einem überfüllten Strand war gegenüber einem vierjährigen Kind nicht verzeihbar. Zumal man in Liz' näherer Umgebung nur zu gut wusste, dass sie ohnehin nicht die fürsorgliche, liebevolle Mutter war, die man dem kleinen Mädchen gewünscht hätte. Die Kleine verbrachte fast den ganzen Tag im Kindergarten, während Liz ihrer Tätigkeit als Verkäuferin in einer Drogerie nachging, aber selbst wenn sie dann am späten Nachmittag mit der Kleinen an der Hand nach Hause zurückkehrte, wirkte sie mürrisch und überdrüssig, so als seien schon bloße zwanzig Minuten mit Sarah eine Zumutung für sie. Oft hatte Liz Bemerkungen aufgeschnappt in der Art: »Wie ungeduldig sie mit dem armen Ding umgeht!« oder »Sie gehört wirklich zu den Frauen, die keine Kinder haben sollten!« Das hatte sie nicht wirklich gekümmert, sie war viel zu sehr mit den Gedanken um ihre missliche Situation beschäftigt gewesen, als dass es sie noch interessiert hätte, was andere davon hielten. Zudem war sie an hochgezogene Augenbrauen und höhnisches Wispern gewöhnt. Schon vor Sarahs Geburt war sie eine häufige Zielscheibe für Tratsch gewesen, wegen der kurzen Röcke, die sie trug, und wegen der auffälligen Art, sich zu schminken.
Jetzt aber, seit dem schrecklichen Tag am Strand, konnte sie plötzlich die Blicke, die ihr folgten, wie glühende Pfeile im Rücken spüren, und die Feindseligkeit der Menschen traf sie mit unerwartet heftigem Schmerz. Mehr als früher senkte man jetzt die Stimme, wenn sie in die Nähe kam, und dennoch schienen die wenigen Satzfetzen, die sie auffing, überlaut in ihren Ohren zu dröhnen.
Das musste irgendwann so kommen … Übernahm nie Verantwortung für die arme Kleine … Schlechteste Mutter, die man sich denken kann … Wäre wirklich besser gewesen, das Kind wäre gar nicht zur Welt gekommen …
Wie gemein sie doch sind, dachte Liz dann, wie bösartig und gemein! Auch ihnen hätte das passieren können!
Eine innere Stimme sagte ihr jedoch, dass dies eben nicht jedem passierte. Auch anderer Leute Kinder verschwanden, wurden auf dem Schulweg gekidnappt oder gerieten beim Spielen an irgendwelche gestörten Typen, die um die Spielplätze herumlungerten. Aber zumeist waren das schreckliche Zufälle, furchtbare Schicksalsschläge, aus denen man den Eltern keine Vorwürfe machen konnte, es sei denn, man setzte voraus, dass Kinder rund um die Uhr bewacht werden müssten und nie einen unbeaufsichtigten Schritt tun dürften, was andererseits ein Hineinwachsen in die Selbstständigkeit verhindert hätte. Ein vierjähriges Mädchen jedoch … ein Strand am Meer … eine Mutter, die vierzig Minuten lang nicht bei dem Kind war …
Vierzig Minuten.
In den endlosen Gesprächen mit der Polizei hatte Liz immer versucht, sich um diese vierzig Minuten herumzumogeln, aber es ließ sich nicht leugnen, dass der Weg von ihrem Liegeplatz bis
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