Das Echo der Traeume
nichts von der Frau, die wenige Stunden zuvor denselben Weg gegangen war, nur in umgekehrter Richtung, mit demselben Kostüm und denselben Schuhen an den Füßen. Niemand, der mich hätte kommen und gehen sehen, hätte eine Veränderung an mir wahrgenommen, außer dass ich kein Heft mehr bei mir trug. Aber ich wusste, was geschehen war. Und Hillgarth ebenfalls. Wir wussten beide, dass sich an diesem Nachmittag Ende Mai die Ordnung der Dinge unwiderruflich verändert hatte.
Auch wenn er wenig Worte machte, so zeigte sein Verhalten doch, dass die Daten, die ich ihm gerade geliefert hatte, ein äußerst umfangreiches und wertvolles Arsenal an Informationen darstellten, die von seinen Leuten in London genauestens analysiert werden mussten, und zwar unverzüglich. Diese Informationen würden Alarmglocken läuten und Allianzen zerbrechen lassen. Und auch die Einstellung des Marineattachés. Zumindest war das mein Gefühl. In seinen Augen sah ich, wie ein anderes Bild von mir entstand: seine neue Mitarbeiterin, die kein Risiko scheute – die unerfahrene Schneiderin mit vielversprechendem, aber ungewissem Potenzial –, hatte sich über Nacht in eine Person verwandelt, die schwierige Situationen mit dem Elan und der Effizienz eines Profis zu meistern verstand. Ich handelte vielleicht nicht sonderlich methodisch, und mir fehlten technische Kenntnisse. Ich gehörte auch nicht zu den Seinen, durch meine Herkunft, meine Sprache, meine Lebenswelt. Doch ich hatte wesentlich mehr Charakter bewiesen, als man erwartet hatte, und das verschaffte mir auf seiner Rangliste eine neue Position.
Es war auch nicht unbedingt Freude, was ich empfand, während mich auf dem Heimweg die letzten Sonnenstrahlen beschienen. Auch nicht Enthusiasmus oder Rührung. Am besten ließ sich mein Gefühl vielleicht mit dem Wort Stolz beschreiben. Zum ersten Mal seit langer Zeit, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, war ich stolz auf mich selbst. Stolz auf meine Fähigkeiten und auf meine Beharrlichkeit, stolz darauf, dass ich die an mich gestellten Erwartungen mit Bravour übertroffen hatte. Stolz darauf, dass ich ein wenig dazu beitragen konnte, diese Welt voller Verrückter zu einem besseren Ort zu machen. Stolz auf die Frau, die aus mir geworden war.
Gewiss, Hillgarth hatte mich dazu angespornt und mich an Grenzen geführt, die mich schwindelig machten. Gewiss, Marcus hatte mir das Leben gerettet, als er mich aus dem fahrenden Zug holte, ohne seine Hilfe zur rechten Zeit wäre ich heute vielleicht nicht hier. Das alles traf zu, ja. Doch ebenso gewiss hatte ich mit meinem Mut und meiner Beharrlichkeit dazu beigetragen, dass diese Mission zu einem guten Ende gekommen war. Alle meine Ängste, alle schlaflosen Stunden und Sprünge ohne Netz hatten am Ende ihren Sinn gehabt: nicht nur den, nützliche Informationen für die schmutzige Kriegskunst zu sammeln, sondern auch und vor allem, um mir selbst und den Leuten in meinem Umfeld zu beweisen, zu welchen Leistungen ich in der Lage war.
Und dann, als mir die Wichtigkeit meines Beitrags bewusst wurde, wusste ich, dass es an der Zeit war, den Vorgaben anderer Menschen nicht mehr blindlings zu folgen. Hillgarth kam auf die Idee, mich nach Lissabon zu schicken, Manuel da Silva beschloss, mich aus dem Weg zu räumen, und Marcus Logan entschied, mich in letzter Minute zu retten. Wie eine bloße Marionette war ich von Hand zu Hand gereicht worden: egal, ob es nun zum Guten oder zum Schlechten war, sie alle hatten für mich entschieden und mich hin und her geschoben wie eine Schachfigur. Keiner war ehrlich mit mir gewesen, keiner hatte offen seine Absichten geäußert. Es war an der Zeit, Klarheit zu verlangen. Ich musste die Zügel wieder in die Hand nehmen, selbst entscheiden, welchen Weg ich gehen wollte und mit wem. Ich würde auf Hindernisse treffen, Fehler machen, es würde Scherben und dunkle Stunden geben. Geruhsam würde meine Zukunft nicht werden, dessen war ich mir sicher. Doch ich wollte nicht mehr weitermachen wie gehabt, ohne vorher zu wissen, was mich erwartete, welchen Risiken ich entgegensah, wenn ich morgens aufstand. Ich wollte endlich selbst bestimmen, welchen Kurs mein Leben nahm.
Diese drei Männer – Marcus Logan, Manuel da Silva und Alan Hillgarth – hatten mich in wenigen Tagen reifer werden lassen, jeder auf seine Weise und wahrscheinlich ohne bewusste Absicht. Oder vielleicht hatte dieser Prozess schon vor längerer Zeit begonnen, und ich war mir meiner neuen Qualitäten nur noch
Weitere Kostenlose Bücher