Das Echo der Traeume
nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich wieder die Augen aufschlug.
» Wach auf, Sira. Wir sind schon am Stadtrand von Madrid. Du musst mir sagen, wo du wohnst.«
Die nahe Stimme holte mich aus dem Schlaf, und ich begann, meine Benommenheit abzuschütteln. Da bemerkte ich, dass ich mich noch immer an ihn kuschelte. Es kostete mich unendlich Mühe, meinen erstarrten Körper aufzurichten und eine normale Sitzhaltung einzunehmen. Mein Nacken war steif, alle Gliedmaßen taub. Auch seine Schulter musste schmerzen, doch er ließ sich nichts anmerken. Noch immer schweigend, sah ich aus dem Autofenster und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Der Himmel über Madrid wurde bereits hell, aber noch brannten Lichter. Wenige, vereinzelt, traurig. Ich musste an Lissabon denken mit seiner nächtlichen Festbeleuchtung. Im Not leidenden Spanien mit seinen Rationierungen lebte man praktisch noch im Dunkeln.
» Wie spät ist es?«, fragte ich schließlich.
» Fast sieben. Du hast ganz schön lange geschlafen.«
» Und du musst fix und fertig sein«, erwiderte ich, noch etwas schläfrig.
Ich sagte ihm die Adresse und bat ihn, ein Stück weiter am Bürgersteig gegenüber zu halten. Es war fast schon Tag, man sah die ersten Menschen auf der Straße. Die Zeitungsausträger, ein paar Hausmädchen, der eine oder andere Angestellte oder Kellner.
» Was hast du jetzt vor?«, fragte ich, während ich vom Wagen aus das Leben auf der Straße beobachtete.
» Als Erstes besorge ich mir ein Zimmer im Palace. Und wenn ich später aufstehe, schicke ich diesen Anzug in die Reinigung und gehe mir ein Hemd kaufen. Der Kohlenstaub an den Gleisen hat es ruiniert.«
» Aber du hast mein Heft gefunden …«
» Ich weiß nicht, ob es der Mühe wert war. Du hast mir noch nicht verraten, was es Wichtiges enthält.«
Ich ging nicht auf seine Bemerkung ein.
» Und was machst du, wenn du frische Sachen angezogen hast?«
Ich sah ihn nicht an bei dieser Frage, denn ich konzentrierte mich noch immer auf die Straße und wartete auf den richtigen Moment für den nächsten Schritt.
» Dann gehe ich zu meiner Firma«, entgegnete er. » Wir haben hier in Madrid eine Niederlassung.«
» Und willst du dann wieder so schnell flüchten wie damals in Marokko?«, fragte ich und beobachtete dabei das morgendliche Treiben auf der Straße.
Er antwortete mit einem schiefen Lächeln.
» Das weiß ich noch nicht.«
In diesem Augenblick sah ich meinen Hausmeister aus der Tür treten, auf dem Weg zum Milchgeschäft. Freie Bahn!
» Falls du wieder flüchten willst, lade ich dich vorher zum Frühstück ein«, sagte ich und stieß rasch die Wagentür auf.
Er packte mich am Arm, um mich zurückzuhalten.
» Nur wenn du mir sagst, in was du verwickelt bist.«
» Nur wenn ich endlich erfahre, wer du bist.«
Hand in Hand liefen wir die Treppe hinauf, bereit zu einer Art Waffenstillstand. Schmutzig und erschöpft, aber am Leben.
66
Ohne die Augen zu öffnen, wusste ich, dass Marcus nicht mehr neben mir lag. Von seinem kurzen Besuch in meiner Wohnung und in meinem Bett blieb nicht die geringste sichtbare Spur. Kein vergessenes Kleidungsstück, kein Abschiedsgruß – nur sein Geruch auf meiner Haut. Doch ich wusste, dass er zurückkommen würde. Früher oder später, wenn ich es am wenigsten erwartete, würde er wieder auftauchen.
Ich wäre gerne noch ein wenig liegen geblieben. Nur noch eine Stunde, vielleicht hätte sogar eine halbe Stunde genügt, um in aller Ruhe zu rekapitulieren, was in den letzten Tagen geschehen war und vor allem in der letzten Nacht: was ich erlebt, gespürt hatte. Wie gerne hätte ich mir noch einmal jede Sekunde der vergangenen Stunden ins Gedächtnis gerufen, aber das ging jetzt nicht. Ich musste in Gang kommen, endlich etwas tun, mich erwarteten tausend Verpflichtungen. Also nahm ich eine Dusche und machte mich ans Werk. Es war Samstag, und obwohl weder die Mädchen noch Doña Manuela an diesem Tag ins Atelier gekommen waren, war alles vorbereitet und zurechtgelegt, damit ich mich informieren konnte, was während meiner Abwesenheit angefallen war. Es schien alles wunderbar geklappt zu haben: Auf den Schneiderpuppen hingen fast fertige Kleider, in den Heften waren Maße notiert, Stoffreste und Schnittteile lagen da, die ich nicht hingelegt hatte, und ich fand Notizen in spitzer Handschrift vor, wer gekommen war, wer angerufen hatte und was wir zu klären hätten. Doch mir fehlte die Zeit, mich um alles zu kümmern. Gegen Mittag
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