Das Echo der Vergangenheit
durcheinander und Mama ist außer sich. Pop wird noch schlimmer sein. Und meine Schwestern und Tanten und Freunde und Nachbarn habe ich noch nicht einmal gesehen. Ich wünschte, wir könnten Carly nehmen und verschwinden.«
»Das nennt man dann Entführung.«
Sie lächelte grimmig. »Ist das alles?« Sie legte ihre andere Hand über seine. »Mama findet, du siehst gut aus.«
»Und was meinst du?«
»Das Erste, was ich an dir bemerkt habe, waren deine Augen, die Wärme und das Mitgefühl. Dann deine Hände, wie sie Diego hielten und meine völlig in sich aufnahmen.«
Nicht gerade die augenblickliche Leidenschaft, die er für sie empfunden hatte.
»Du bist langsam in meine Wahrnehmung eingedrungen – dein kantiges Gesicht, deine breiten Schultern, die Falten um deine Mundwinkel, wenn du lächelst.«
Seitdem er sie kennengelernt hatte, hatte er so viel gelächelt wie seit Langem nicht mehr.
»Du siehst gut aus und bist ein guter Mensch.«
Wenn sie jetzt noch hinzufügte: »Und ich liebe dich wie einen Freund …«
»Gott hat dir die Fähigkeit gegeben, tiefe Zuneigung zu empfinden.«
Zuneigung und Liebe waren nicht dasselbe. Sie musste doch wissen, dass er über die Gefühle von Zuneigung längst hinaus war.
»Jeden Tag verteidigst du Menschen, die so verletzlich sind.«
Aber nicht, weil Gott es erwartete. Er war als Kleinkind in der Kirche gesegnet worden, hatte sich als Jugendlicher taufen lassen. Sein erster Schritt als Erwachsener war gewesen, den Glauben seines Vaters abzulehnen, das Mittel zur Kontrolle, das Webb benutzt hatte, um Schwächere zu tyrannisieren. Matt mochte in jeder anderen Hinsicht wie sein Vater sein, aber er würde kein Heuchler sein. »Ich tue das nicht, um irgendeinen Richter im Himmel zufriedenzustellen. Ich tue es für jedes einzelne Kind.«
* * *
Jetzt spürte sie, wie er sich zurückzog. Sie hatte versucht ihm zu sagen, was sie zu ihm hinzog, aber vielleicht sah sie gute Eigenschaften in Menschen, die sie gar nicht hatten – und bemerkte nicht die schlechten, die es gab. »Ich sehe besser mal nach Carly.«
Er widersprach ihr nicht.
Carly lag wie ein Kätzchen zusammengerollt auf dem Bett. Sie schlug die Augen auf. »Daddy?«
»Nein, Liebes. Ich bin es, Sofie.«
»Ich habe geträumt, ich wäre noch ganz klein. Wie auf den Bildern, weißt du? Und du und Daddy und ich waren alle zusammen.«
»Das habe ich auch geträumt.«
Carly rutschte näher. »Mir geht es nicht gut.«
»Wie lange ist es her, dass du etwas gegessen und es nicht wieder ausgespuckt hast?«
Carly zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich habe ich Grippe.«
Sofie drängte sie nicht – sie nahm nur Carlys Hand und hielt sie zwischen ihren Händen. »Möchtest du vielleicht ein Buch lesen? Ich habe ein paar von meinen Lieblingsbüchern aus der Zeit, als ich noch klein war. Oder die Zwillinge haben neuere Bücher.«
»Wer sind die Zwillinge?«
»Meine Nichten Lisa und Lara. Sie sind ein bisschen jünger als du und wohnen oben.« Als sie und Carly früher zusammengelebt hatten, hatte es kaum Kontakt zu ihrer Familie gegeben, und natürlich war Carly zu klein gewesen, um sich zu erinnern, selbst wenn sie mit den anderen Kindern von damals zusammen gewesen war.
»Eins von deinen Lieblingsbüchern wäre schön.«
Sie ging in das andere Zimmer, wo die Geschichten, die sie gesammelt hatte, in einem Bücherregal standen. Auf dem oberen Bord standen die Schätze ihrer Kindheit: Heidi, Black Beauty, Die Bekenntnisse der Charlotte Doyle – Bücher, die ihr neue Welten eröffnet hatten. Sie nahm Die Insel der blauen Delphine herunter, weil sie sich automatisch zu der Geschichte hingezogen fühlte, die sie immer wieder gelesen hatte und die von dem Mut eines Mädchens handelte, das allein auf einer Insel zurückgelassen worden war und gegen wilde Hunde und die Natur kämpfen musste.
Vielleicht konnte sich Carly mit Karanas Isolation und ihrer Stärke identifizieren. Sie nahm das Buch mit ins Schlafzimmer, wo Carly sich aufgesetzt hatte. »Möchtest du noch einen Tee?«
»Nein, danke.« Sie nahm das Buch und betrachtete den Einband.
»Kennst du es schon?«, fragte Sofie.
»Nein.«
»Es hat einen Jugendbuchpreis gewonnen.« Sofie legte eine Hand auf Carlys Knie. Carly blickte mit einer solchen Sehnsucht zu ihr auf und verschlang sie, bis nichts anderes mehr existierte.
* * *
Ihr Traum war wahr geworden: Sofie kümmerte sich um sie, berührte sie, lächelte. Ihre wunderbare Stimme, ihr schönes
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