Das Echo der Vergangenheit
Warrick, die Vertrauenslehrerin, der sie am Tag zuvor vorgestellt worden war, hatte sie getestet, um ihren Wissensstand herauszufinden und was sie bei Daddys ständigen Umzügen – und durch seinen Tod – verpasst hatte. Die Frau hatte sie neugierig, aber freundlich angesehen, während Sofie so viel von ihrer Situation erklärt hatte, wie sie vereinbart hatten, und dabei die Worte gesprochen hatte, die ihr selbst nicht über die Lippen kamen.
Mit Sofie an ihrer Seite näherte sie sich dem Gebäude. Sie wollte Ms. Warricks Freundlichkeit nicht. Sie wollte keine fürsorglichen, verständnisvollen Lehrer. Sie wollte keine Freunde. Schon bei dem Gedanken an Freunde zog sich ihr Magen wie eine Faust zusammen. Sie konnte jedem, der ihr zu nahe kam, wehtun.
Sie blieb vor dem Eingang stehen und versuchte es mit einem letzten Flehen. »Bitte, Sofie. Ich möchte, dass du mich unterrichtest.« Wenn zehn zu eins gut war, wäre eins zu eins dann nicht noch besser?
Sofies Stimme klang sanft. »Du schaffst das schon.«
Sie wussten beide, dass das nicht stimmte. »Ich habe Bauchschmerzen.«
Sofie umarmte sie. »Es ist völlig in Ordnung, dass du nervös bist. Oder sogar Angst hast.«
»Ich glaube, ich bin krank.«
»Du bist nicht krank, meine Süße. Du bist schlau und pfiffig.« Und dann die Sätze, die sie immer wieder sagte. »Du bist geliebt. Du bist schön. Du bist ein Kind Gottes.«
»Bin ich nicht. Nichts davon.«
»Du bist all das und noch viel mehr.«
Carly schüttelte den Kopf, unfähig, nicht bereit, es zu glauben. Der Einzige, der sie ganz und gar geliebt hatte, war tot. Wer würde sie jetzt noch wollen? Nur Sofie. Denn Sofie wusste es. Sie war dabei gewesen. Sie hatte gesehen …
»Es klingelt, Carly. Du weißt die Nummer deines Klassenzimmers. Geh rein, Liebes.«
Sie drehte sich um, aber ihre Füße waren schwer wie Blei. Alle ihre Worte verstopften ihre Kehle. Als sie keine Freunde hatte haben dürfen, hatte sie sich mehr als alles in der Welt welche gewünscht. Jetzt musste sie die anderen Kinder von sich fernhalten, jeden. Sie durften nicht sehen, was sie war.
Sie überlegte, dass sie hineingehen und sich wieder hinausschleichen könnte, wenn Sofie weg war, aber wenn sie Schwierigkeiten machte, durfte sie vielleicht nicht bei Sofie bleiben. Und Grandma konnte sie nicht nehmen und Daddy ...
Tränen traten ihr in die Augen. Sie schluckte ein paar Schluchzer hinunter. Ich bin geliebt. Ich bin schön. Ich bin ein Kind Gottes . Lügen. Alles Lügen.
* * *
Körperlich und emotional erschöpft seufzte Sofie, als sich die Tür hinter dem Kind schloss. Sie hatte sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht und hatte Carlys Flehen widerstanden. Wenn irgendetwas sie dazu bringen konnte, wieder zu sprechen, dann müsste es eine beständige soziale Situation sein, in der Teilnahme belohnt wurde. Und doch hatte der letzte Blick, den Carly ihr zugeworfen hatte, sich wie ein Messer in ihr Herz gebohrt. Was für eine Verzweiflung.
Vielleicht hatte sie sich geirrt. Hätte sie Carly die Entscheidung überlassen sollen? Andere Kinder lernten erfolgreich zu Hause. Aber sie hatten auch nicht das erlebt, was Carly durchgemacht hatte. Wenn sie das Geben und Nehmen sozialer Beziehungen nicht jetzt lernte, wie und wann sollte es dann geschehen?
Oder verlangte sie zu früh zu viel von ihr? In den beiden Tagen in der Villa hatten sich Star und Rese und Lance und Nonna alle mit ihr beschäftigt und versucht, eine Unterhaltung mit ihr zu führen – vergeblich. Carly wollte nicht unhöflich sein. Sie konnte nur nicht mit Menschen kommunizieren, die sie nicht kannte, denen sie nicht vertraute. Der einzige Mensch, dem Carly vertraute, hatte sie gerade im Stich gelassen.
Sofie starrte auf die geschlossene Eingangstür und widerstand dem Drang, sie zurückzuholen. Warum bestand sie darauf? Weil sie selbst einen Freiraum brauchte? Sie wollte nicht glauben, dass ihre Gründe so selbstsüchtig waren. Hatte sie sich die letzten sechs Jahre nach diesem Kind gesehnt, nur um eine Trennung zu erzwingen, wenn Carly am verletzlichsten war?
Vielleicht hatte Eric das gesehen, hatte erkannt, dass sie nicht die Hingabe an Carly mitbrachte, die er erwartet hatte. Die Hingabe, die er gehabt hatte. Sie hasste den Gedanken, aber vielleicht hatte er ja recht. Carlys einzige Kraft- und Trostquelle zu sein, war schwerer als alles, was sie jemals getan hatte.
Sie schluckte ihre Zweifel und Enttäuschung hinunter. Egal, wie überwältigt und
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