Das Echo des Bösen: Soul Seeker 2 - Roman (German Edition)
geübt habe, die Telekinese, an deren Beherrschung ich noch feilen wollte, und konzentriere mich fest auf die Schachtel. Dabei beachte ich Palomas Ratschlag, vom Ende her zu denken, denn sie behauptet, das sei die zweitwichtigste Zutat der Magie und komme gleich nach der Entschlusskraft.
»Das Universum arbeitet die Einzelheiten aus«, hatte sie gesagt. »Das Wichtigste, was du tun kannst, ist, deine Entschlossenheit zu erklären und dir dann das Ergebnis vorzustellen, als sei es bereits eingetroffen.«
Und statt mir nun vorzustellen, wie sich die Schachtel von dem Regalbrett hebt und sachte zu Boden schwebt, wie ich es früher getan habe, male ich mir aus, wie sie bereits wohlbehalten vor meinen Füßen steht. Prompt muss ich mit ansehen, wie sie sich vom Regalbrett löst und ungebremst auf den Boden kracht. Da muss ich wohl noch ein paar telekinetische Mängel ausbügeln.
Ich spähe zur Tür, in der Hoffnung, dass Paloma den Lärm überhört hat und nicht auf die Idee kommt nachzuforschen. Dann hocke ich mich neben die alte Kiste und öffne sie. Auf der Stelle weht mich ein Muff von Staub und Moder an, gefolgt von einem erdigen Geruch nach Gewürzen, Mesquite und ein paar anderen namenlosen Düften, die ich mittlerweile mit dem Ort hier assoziiere.
Ich krame durch den Inhalt. Schiebe einen selbst gestrickten Pulli beiseite, der mir auf den ersten Blick missfällt, ein altes Karohemd, das fast zu Tode getragen wurde, einen Stapel vergilbte T-Shirts, die einmal weiß waren, bis ich auf eine schwarze Daunenjacke stoße, die vielleicht ein bisschen groß sein könnte, aber für meine Zwecke definitiv ausreicht.
Schon will ich den Karton schließen und wieder nach oben stellen, als mir ganz unten ein Stapel Blätter auffällt, den ich mir noch ansehen will. Ich finde ein altes Schulzeugnis von Django mit Einsern in Spanisch und Sport, einem guten Zweier in Englisch und Dreiern in Geschichte und Naturwissenschaften. Ich lehne mich zurück und streiche über das verknitterte Blatt. Dann schließe ich die Augen und stelle mir vor, wie er damals war – ein gut aussehender Junge mit einer Nase wie der meinen – ein durchschnittlicher Schüler, der eine nicht ganz so durchschnittliche Zukunft vor sich hatte, der er sich nicht zu stellen wagte.
Ich lege das Zeugnis beiseite und stöbere weiter. Ich fühle mich seltsam schuldig, weil ich herumspioniere, bin aber ebenso begierig nach allem, was ich in die Finger kriege. Ich lese alles. Weitere Schulzeugnisse, Stundenpläne, ein zusammengefalteter Zettel von einem Mädchen namens Maria, die offenbar auf ihn stand, falls man aus den um den Rand herum gemalten Herzchen Schlüsse ziehen darf. Schließlich komme ich zu dem Brief, den er Paloma an dem Tag hinterlassen hat, als er davongelaufen ist, ohne zu ahnen, dass seine Reise tragisch und kurz sein würde. Dass er sich kurz nach seiner Ankunft in Kalifornien in meine Mutter verlieben und sie schwängern würde, nur um noch bevor sie ihm das sagen konnte, auf einer hektischen Stadtautobahn in L. A. bei einem Unfall geköpft zu werden.
Ich hole tief Luft, und meine Hände zittern, während meine Augen über die Zeilen wandern:
Mama,
wenn du das hier liest, bin ich schon lange weg, und auch wenn du versucht sein wirst, mir zu folgen, bitte ich dich, mich ziehen zu lassen.
Ich bedauere die Enttäuschung und den Kummer, die ich dir bereitet habe. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich kann mich glücklich schätzen, eine so nette, liebevolle und unterstützende Mutter zu haben, und ich hoffe, du begreifst, dass mein Verschwinden nichts mit dir als Person zu tun hat.
Die Stadt erstickt mich einfach. Ich halte das nicht mehr aus. Ich muss weit weg von hier – irgendwohin, wo mich niemand kennt.
Wo mich die Visionen nicht finden.
Du sprichst von Bestimmung und Schicksal – aber ich glaube an den freien Willen.
Die Bestimmung, die ich wähle, erfüllt sich an einem weit von hier entfernt gelegenen Ort.
Ich melde mich, wenn ich Fuß gefasst habe.
Alles Liebe,
dein Django
Ich lese den Brief noch einmal.
Und dann noch einmal.
Und nachdem ich ihn so oft gelesen habe, dass ich nicht mehr mitzählen kann, falte ich ihn ordentlich zusammen, lege ihn zurück in die Schachtel und stelle sie wieder an ihren Platz oben im Schrank.
Dann schlüpfe ich in die alte Daunenjacke meines Vaters und durchsuche die Taschen. Sorgfältig taste ich jeden Saum ab und halte inne, als ich etwas Kleines, Glattes entdecke, das jedoch ein
Weitere Kostenlose Bücher