Das Echo dunkler Tage
sie bei der Hand und führte sie zum Feuer.
»Du bist ja ganz durchgefroren, mein Schatz.«
Sie lächelte, grub ihre Nase in seinen Pullover und sog seinen Duft ein. Ros und Engrasi kamen mit Gläsern, Tellern, Brot und einer Schüssel Suppe aus der Küche.
»Ich hoffe, du hast Hunger, Amaia, Tante Engrasi hat für ein ganzes Regiment gekocht.«
Körperlich war Engrasi in den letzten Jahren gebrechlicher geworden, aber im Kopf war sie so klar wie eh und je. Amaia empfand eine so tiefe Zuneigung zu ihr, dass sie lächeln musste. Engrasi hatte ihren Blick bemerkt.
»Glotz nicht so, ich bin nicht plötzlich klapprig geworden, ich habe nur diese Latschen an, die mir deine Schwester geschenkt hat. Sind mir zwei Nummern zu groß, die blöden Dinger, und rutschen mir immer vom Fuß. Ich muss höllisch aufpassen, dass ich nicht auf dem Hosenboden lande. Nur deshalb laufe ich so eirig durch die Gegend, als hätte ich die Windeln voll.«
Die Stimmung beim Essen war ausgelassen. James gab in seinem amerikanischen Akzent einen Witz nach dem anderen zum Besten, und Engrasi garnierte sie mit spitzen Bemerkungen. Nur Ros lächelte traurig und wich Amaias Blicken aus.
Als James und Engrasi das Geschirr in die Küche trugen, genügte eine einfache Bemerkung Amaias, um Ros zurückzuhalten.
»Ich war heute in der Backstube.«
Ros sah sie kurz an und setzte sich wieder hin. Sie sah aus wie jemand, der ertappt wurde und sich gleichzeitig so erleichtert fühlte, als wäre ihm eine Last von den Schultern genommen.
»Was hat sie dir erzählt? Oder vielmehr: Wie hat sie es dir erzählt?«
»Auf ihre Art, wie alles, was sie tut. Sie sagt, dass sie ihr zweites Buch veröffentlichen wird, dass man ihr eine Fernsehsendung angeboten hat, dass von ihr allein das Wohl und Wehe der Familie abhängt, dass sie ein Ausbund an Tugend ist und der einzige Mensch auf der Welt, der weiß, was das Wort Verantwortung bedeutet«, deklamierte sie wie ein Bänkelsänger, bis Ros endlich lächelte. »Und dass du nicht mehr in der Backstube arbeitest und Eheprobleme hast.«
»Amaia … Tut mir leid, dass du es so erfahren hast, ich hätte es dir längst erzählen sollen, aber ich wollte dich nicht damit belasten. Ich bin jetzt dabei, die Probleme zu lösen, die ich längst hätte lösen sollen, und das kann ich sowieso nur allein.«
»So ein Quatsch, außerdem bin ich ein wandelnder Seelsorger, gehört schließlich zu meinem Job. Ich verstehe sowieso nicht, wie du es so lang mit Flora ausgehalten hast.«
»Weil ich keine Wahl hatte.«
»Man hat immer eine Wahl.«
»Nicht alle sind wie du. Wir tun das, was man von uns erwartet. Also haben wir die Backstube fortgeführt.«
»Höre ich da einen Vorwurf heraus?«
»Versteh mich nicht falsch, aber als du weg warst, kam es mir so vor, als gäbe es keinen anderen Ausweg.«
»Es gibt immer einen Ausweg.«
»Als Papa starb, wurde Mama auf einmal sehr merkwürdig, wahrscheinlich waren das die ersten Anzeichen ihres Alzheimers. Plötzlich war ich gefangen: Flora hat Druck gemacht von wegen Verantwortung, Mutter wurde zunehmend verwirrter, und Freddy … Freddy war meine Zuflucht.«
»Und wie kommt’s, dass du Flora jetzt plötzlich alles überlassen hast? Sie mag sich zwar als Herrin aufspielen, aber die Backstube gehört genauso dir wie ihr, und meinen Anteil habe ich euch ja paritätisch abgetreten. Du bist genauso befähigt wie sie, das Unternehmen zu führen.«
»Mag sein, aber im Moment habe ich ganz andere Sorgen. Aber du hast recht, Flora hat mir das Leben zur Hölle gemacht mit ihrer ständigen Krittelei. Ich musste mich jeden Morgen regelrecht überwinden, um überhaupt hinzugehen, ganz krank hat sie mich gemacht, physisch wie psychisch. Merkwürdigerweise war ich gleichzeitig ganz klar im Kopf und so gelassen wie selten. Entschlossen, vielleicht trifft es dieses Wort am besten. Und eines Tages, wie wenn der Himmel aufreißt, wusste ich, was ich zu tun hatte: Ich würde nicht wieder hingehen. So habe ich’s dann gemacht, und so bleibt es auch, zumindest vorerst.«
Amaia hob die Hände und begann langsam und rhythmisch zu klatschen.
»Bravo, Schwester!«
Ros lächelte und deutete eine Verbeugung an.
»Und was machst du jetzt?«
»Ich arbeite in einer Aluminiumfabrik, in der Buchhaltung, Gehaltslisten und Wochenpläne erstellen, Versammlungen vorbereiten und so. Acht Stunden täglich, von Montag bis Freitag, und nach Feierabend schalte ich komplett ab. Nichts Weltbewegendes, aber genau der
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