Das Echo dunkler Tage
dass wir Tierhaare gefunden haben, die zweifelsfrei von einem Bären stammen?«
»Wenn die Leute vom Umweltschutz die erste Analyse vorgenommen haben, könnten es auch Schuppen von Dinosauriern sein, die sich dann als Eidechsenhaut entpuppen. Hier ist kein Bär. Wir haben keine Spuren entdeckt, keine Tierkadaver, keine Schlafplätze, keine Exkremente, gar nichts. Und ich glaube auch nicht, dass die Geisterjäger irgendwas finden werden. Nein, hier ist kein Bär, Bärenhaare hin oder her. Vielleicht irgendwas anderes, aber kein Bär«, erklärte er, während er mit großer Sorgfalt das Blatt wieder entfaltete. Die dunklen Linien des Pflanzensafts waren jetzt deutlich zu erkennen.
»Sie meinen ein anderes Tier?«
»Nicht unbedingt.«
»Er meint einen Basajaun«, mischte sich Gorria ein.
Amaia stemmte die Hände in die Hüften.
»Ein Basajaun. Wieso sind wir da nicht früher draufgekommen? Wie ich sehe, können Sie während der Arbeit noch gemütlich Zeitung lesen.«
»Und Fernsehen schauen«, fügte Gorria hinzu.
»Im Fernsehen auch?« Amaia sah Jonan verzweifelt an.
»Ja, in Neues aus Spanien haben sie gestern kurz davon berichtet. Dauert nicht mehr lange, und hier wimmelt’s nur so von Journalisten.«
»Mann, das ist doch grotesk. Ein Basajaun! Und? Haben Sie nun einen gesehen?«
»Er ja«, sagte Gorria.
Sie bemerkte den harten Blick, mit dem Flores seinen Kollegen ansah, während er den Kopf schüttelte.
»Noch mal zum Mitschreiben, damit ich es wirklich begreife: Sie haben also einen Basajaun gesehen?«
»Habe ich so nicht gesagt«, murmelte Flores.
»Alberto, verdammt! Das ist doch nicht schlimm. Viele Leute wissen davon, außerdem steht es im Bericht, sie wird es sowieso erfahren, also besser, du erzählst es ihr selbst.«
»Erzählen Sie!«, drängte Amaia.
»Das war vor zwei Jahren«, begann Flores zögerlich. »Ein Wilderer hat mich erwischt. Ich stand gerade an einem Baum und habe gepinkelt, da hat mich der Blödmann mit einem Hirsch verwechselt und in die Schulter geschossen. Ich bin zusammengebrochen, wurde ohnmächtig und lag mindestens drei Stunden da. Als ich wieder aufwachte, hockte jemand neben mir, der hatte Haare im Gesicht, aber nicht wie ein Tier, sondern wie ein Mensch, dem ab der Augenpartie ein Bart wächst. Und was für Augen! Intelligent, voller Mitgefühl, fast menschlich, nur dass die Iris riesig war, wie bei Hunden. Dann wurde ich erneut ohnmächtig und bin erst wieder aufgewacht, als ich die Kollegen rufen hörte, die nach mir gesucht haben; da sah er mir noch mal in die Augen, stand auf und ging los. Er war bestimmt zweieinhalb Meter groß. Bevor er sich zwischen den Bäumen verlor, drehte er sich noch mal um und hob die Hand wie zum Gruß. Dann pfiff er so laut, dass meine Kollegen es noch bis in einem Kilometer Entfernung hörten. Ich verlor wieder das Bewusstsein, und als ich zu mir kam, lag ich im Krankenhaus.«
Bei seiner Schilderung hatte er das Blatt erneut zusammengefaltet und zerschnitt es nun mit dem Daumennagel in winzige Stücke. Jonan stellte sich neben Amaia und sah sie kurz an, bevor er das Wort ergriff.
»Sind Sie sicher, dass es keine Halluzination war? Der Schock wegen des Schusses, der Blutverlust, Sie allein mitten in den Bergen: Das muss ein schrecklicher Moment gewesen sein. Vielleicht hat aber auch der Wilderer, der auf Sie geschossen hat, Gewissensbisse bekommen und ist bei Ihnen geblieben, bis Ihre Kollegen Sie gefunden haben.«
»Der Wilderer hielt mich nach eigener Aussage für tot und ist abgehauen wie eine Ratte. Ein paar Stunden später geriet er in eine Alkoholkontrolle und hat dann erst der Polizei Bescheid gesagt. Netter Zeitgenosse, oder? Wahrscheinlich sollte ich mich bei dem Kerl auch noch bedanken, ohne ihn hätte man mich bis heute nicht gefunden. Und was die Halluzination angeht, da könnten Sie recht haben. Aber im Krankenhaus hat man mir den Verband aus Blättern und Gräsern gezeigt, eine Art Druckverband, um die Blutung zu stillen.«
»Vielleicht haben Sie sich den Verband selbst angelegt, bevor Sie das Bewusstsein verloren. Es gab schon Fälle, da hat sich jemand nach einer Amputation selber abgebunden, das amputierte Glied aufbewahrt und den Notarzt gerufen, bevor er ohnmächtig wurde.«
»Ja, habe ich auch gelesen, im Internet. Aber ich war ohnmächtig. Wie hätte ich da so fest zudrücken können, dass die Blutung aufhörte? Das kann nur jemand anders getan haben, und damit hat er mir das Leben gerettet.«
Amaia
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