Das Echo dunkler Tage
zwei Jahren hatte sie an einem Austausch mit der FBI-Akademie in Quantico, Virginia, teilgenommen, zu dessen Programm auch ein Symposium zur Täterprofilerstellung gehört hatte. Die letzte Station war New Orleans gewesen, ein Kurs über Personenerfassung und verdeckte Ermittlungen. Durch den Hurrikan Katrina waren viele Verbrechen unaufgeklärt geblieben und zahlreiche Beweisstücke erst Jahre später aufgetaucht. Amaia war überrascht gewesen, dass die Folgen der Katastrophe immer noch sichtbar waren und sich gleichzeitig diese Größe einer untergehenden Kultur erhalten hatte. Special Agent Dupree hatte ihr seinerzeit ans Herz gelegt, sich einen der Trauerzüge anzusehen, bei dem eine Jazzband vom Begräbnis bis zum Friedhof von Saint Louis mitmarschierte.
»Die Gräber liegen erhöht, damit die Toten nicht aus der Erde gespült werden«, hatte Dupree erklärt. »Es ist nämlich nicht das erste Mal, dass New Orleans vom Bösen heimgesucht wird. Diesmal ist es unter dem Namen Katrina aufgetreten, aber es war schon oft hier.«
Amaia sah ihn verblüfft an.
»Sie sind vermutlich überrascht, dass ein FBI-Agent solche Begriffe in den Mund nimmt. Aber glauben Sie mir, das ist der Fluch dieser Stadt: dass die Toten nicht richtig begraben werden können, weil wir uns hier sechs Fuß unter dem Meeresspiegel befinden. Die Leichen werden in Steingräbern übereinandergeschichtet, manchmal ganze Familien, und weil die Toten kein christliches Begräbnis erhalten, kommen sie nicht zur Ruhe. New Orleans ist der einzige Ort in den USA, an dem ein Friedhof nicht Friedhof heißt, sondern Totenstadt, als würden die Verstorbenen hier leben.«
Amaia sah ihn verwundert an.
»Auf Baskisch heißt Friedhof hiherria . Wörtlich übersetzt bedeutet das ›Totendorf‹.«
»Da haben wir ja einiges gemeinsam: die Nähe zu Frankreich, das Stierrennen am 7. Juli und den Namen für Friedhof.«
Amaia kehrte in die Gegenwart zurück. Gut möglich, dass die vielen Überschwemmungen die damaligen Bewohner von Elizondo dazu bewogen hatten, den neuen Friedhof hier oben in Anzanborda anzulegen. Der ursprüngliche Friedhof hatte ganz traditionell neben der Kirche gelegen, am Dorfplatz, wo auch das Rathaus stand. In den Annalen gab es nur einen einzigen Hinweis auf die Gründe: »hygienische Maßnahmen«, hieß es dort. Denn wenn eine Flut die Kirche zum Einsturz bringen und deren Steine so weit wegschwemmen konnte, dass sie unauffindbar blieben, dann konnte man sich unschwer vorstellen, was mit den Gräbern passieren konnte.
Wie über einem Stadttor das Waffenschild wachte über dem Friedhofstor ein Schädel und verkündete den Besuchern, dass sie das Reich der Toten betraten. Rechts neben dem Eingang stand eine Zypresse, daneben eine Trauerweide, auf der anderen Seite eine Buche. In der Mitte erhob sich ein majestätisches Kreuz. Vier Wege gingen davon ab und unterteilten den Friedhof in vier gleich große Quadrate. Das Grab der Familie Arbizu war gleich hinter diesem Wegkreuz. Auf der Gruft lag träge ein Engel mit gelangweiltem Gesicht, den der Schmerz der Menschen nicht zu kümmern schien. Sein Blick ging in Richtung der Totengräber, die die Grabplatte abgehoben hatten und sie auf Metallstangen wegrollten. Amaia stellte sich zu Jonan, der gedankenversunken an dem Kreuz stand.
»Ich dachte, solche Kreuze stehen nur am Wegrand«, sagte sie.
»Da haben Sie falsch gedacht, Chefin. Der Ursprung dieser Wegkreuze ist allerdings nicht bekannt, man weiß nur, dass es sie schon vor dem Christentum gab. Sie beziehen sich mehr auf die Unterwelt als auf die sichtbare Welt oben.«
»Dann stellte also gar nicht die Kirche diese Kreuze auf?«
»Nein, nicht unbedingt. Die Kirche hat sie oft nur gesegnet, um eine heidnische Sitte zu integrieren, die sie nicht ausrotten konnte. Für die Menschen waren Wegkreuzungen Orte der Ungewissheit. Man musste die Entscheidung treffen, welchem Weg man folgen sollte, man fragte sich, wer einem wohl entgegenkommen würde. Stellen Sie sich mal vor, eine pechschwarze Nacht, keine Lichtquelle, keine Hinweisschilder. Die Furcht war so groß, dass man an Kreuzungen stehenblieb, die Sinne schärfte, horchte, zu erkennen versuchte, ob eine böse, im Fegefeuer schmorende Seele anwesend war. Man glaubte, dass Menschen, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren oder andere getötet hatten, keine Ruhe fanden, dass sie immer auf der Suche waren, nach dem Ort, an dem sie gerächt würden, nach jemandem, der ihre Last mit ihnen
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