Das Echo dunkler Tage
teilte. Wenn man einer solchen Seele begegnete, konnte man krank oder verrückt werden.«
»Gut, das habe ich verstanden. Aber wir sind doch hier auf einem Friedhof und nicht an einer Kreuzung.«
»Hier war ja nicht immer ein Friedhof. Früher verliefen hier Wege, zum Beispiel der von Elizondo nach Beartzun, wahrscheinlich auch der von Etxaide, der durch den Bau der Landstraße verschwunden ist. Vielleicht musste der Ort auch gesegnet werden.«
»Natürlich musste er das, ist schließlich ein Friedhof, also heilige Erde.«
»Manchmal wurden Kreuze an Orten aufgestellt, an denen eine schreckliche Tat begangen wurde, um sie zu reinigen: ein Mord, eine Vergewaltigung. Oder es war ein Treffpunkt für Hexen, wovon es in dieser Gegend viele gab. Das Kreuz hat eine doppelte Funktion: Es heiligt den Ort, an dem es steht, und es weist darauf hin, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht. Mit anderen Worten: Auf dem Friedhof wurde es aufgestellt, weil sich früher Wege hier kreuzten. Und es ist ein Hinweis darauf, dass unter dem Friedhof die gequälten Seelen von Mördern und Opfern hausen.«
Amaia sah Jonan skeptisch an. »Hier sollen Mörder begraben sein? Ich dachte, die Kirche hätte Mörder exkommuniziert und ihnen ein Begräbnis in heiliger Erde verweigert.«
»Schon, aber oft hat man nicht gewusst, dass es Mörder waren. Überlegen Sie nur: Wenn heute schon viele Verbrechen ungesühnt bleiben, wie muss das erst im 15. Jahrhundert gewesen sein? Ein Paradies für Serienmörder! Sie konnten darauf bauen, dass die Verbrechen einem Analphabeten in die Schuhe geschoben wurden. Also hat man vorsorglich Kreuze aufgestellt, eher als Abwehr gegen das Verborgene als gegen das Sichtbare. Es gibt da noch ein Phänomen, das diese These unterstützt: Bis ins 20. Jahrhundert hinein durften ungetaufte Kinder nicht auf dem Friedhof begraben werden, also auch Fehlgeburten oder Totgeburten nicht. Für die Eltern, die um das Seelenheil ihrer verstorbenen Kinder besorgt waren, war das ein großes Problem. Wenn bei der Geburt auch die Mutter starb, versteckte man das Baby häufig zwischen ihren Beinen, um beide zusammen begraben zu können. Wenn das nicht ging, beerdigten die Familien sie nachts heimlich an einem Kreuz, weil es als heilig galt, und ritzten die Initialen oder andere Erkennungszeichen hinein. Ich habe mir dieses Kreuz hier mal näher angeschaut, aber nichts gefunden.«
»So, jetzt bin ich mal dran mit einem anthropologischen Beitrag. Hier im Tal von Baztán wurden ungetaufte Kinder vor dem Haus begraben«, setzte Amaia den Schlusspunkt unter diese Ausführungen. Sie sah zum Eingang und erblickte zwischen den Büschen jemanden, den sie nur allzu gut kannte.
»Wer ist das?«, fragte Jonan.
»Mein Schwager Freddy.«
Freddys Gesicht war ausgemergelt, tiefe Ringe lagen unter den geröteten Augen. Amaia ging auf ihn zu, aber plötzlich war er wieder hinter den Büschen verschwunden. Es begann zu regnen. Unzählige Regenschirme wurden aufgespannt, was das Filmen enorm erschwerte. Amaia erblickte Montes, der in der Nähe von Anne Arbizus Eltern stand. Er schien ihr etwas zurufen zu wollen, aber sie schüttelte leicht den Kopf.
Die Eltern von Anne Arbizu hätten dem Alter nach fast ihre Großeltern sein können. Sie hatten Anne erst spät adoptiert, als sie die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben hatten. Seither war ihre Tochter der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Annes Mutter hatte offenbar Beruhigungsmittel genommen. Sie weinte nicht, stand aufrecht da und schien sogar eine andere Frau zu stützen, vielleicht ihre Schwägerin. Amaia kannte die beiden Frauen von früher, wobei sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich verwandt waren. Jedenfalls legte die Mutter ihren Arm um die andere Frau, während sie selbst auf einen Punkt zwischen dem Sarg und dem offenen Grab starrte. Der Vater hingegen weinte hemmungslos. Er trat ans Grab, beugte sich vor und streichelte den Sarg, als hätte er Angst, auch noch die letzte Verbindung zu seiner Tochter zu verlieren. Brüsk wies er alle zurück, die ihn stützen, alle Schirme, die ihn vor dem Regen schützen wollten, der sich in seinem Gesicht mit seinen Tränen mischte. Als der Sarg hinuntergelassen wurde und er den Kontakt zu dem feuchten Holz verlor, fiel er um wie ein tief am Stamm gekappter Baum, landete in der Pfütze, die sich auf dem Kies gebildet hatte.
Es war herzzerreißend: der Vater, der seine Tochter nicht loslassen wollte, den Sarg, der ihre Hand symbolisierte.
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