Das Echo dunkler Tage
Dieses Sinnbild einer tiefen Liebe zu einem Kind riss die Barriere ein, hinter der Amaia Schutz vor ihren eigenen Gefühlen gesucht hatte. Es war die Hand des Vaters, diese Geste, um die sie Eltern immer beneidete, die den Riss in dem Damm verursachte, durch den nun Angst und Beklemmung strömten, der unerfüllte Wunsch, selbst Mutter zu werden. Sie zog sich zum Steinkreuz zurück und versuchte zu verbergen, wie aufgewühlt sie war. Die Hand. Sie war der Auslöser. Obwohl sie schon seit Jahren schwanger zu werden versuchte, fühlte sie sich nicht so stark von Babys angezogen, wie sie es bei ihren Freundinnen oder ihren Schwestern erlebt hatte. Sie stierte nicht nach ihnen, wenn Mütter sie in den Armen hielten. Was sie vermisste, wurde ihr erst bewusst, wenn sie eine Mutter sah, die ihr Kind an der Hand führte. Der Schutz und das Vertrauen, das sich in dieser intimen Geste verbarg, das kleine Händchen, das sich in der großen starken Hand wiegte, war für sie der höchste Ausdruck menschlicher Liebe und Hingabe, war für sie die Essenz der Mutterschaft, die ihr bisher versagt geblieben war, die ihr vielleicht für immer versagt bleiben würde. Vielleicht würde sie nie ein Kind an der Hand führen. Vielleicht würde sie nie in einem Wesen von ihrem Fleisch und Blut die glückliche Kindheit nachholen können, die sie nicht gehabt hatte, den Mangel an Liebe wiedergutmachen, den sie durch ihre Mutter erfahren hatte.
18
D ie Beerdigung war vorbei, der Regen und die Trauergäste schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Stattdessen hatte sich dichter Nebel breitgemacht, der sich den Baztán entlang durchs ganze Tal zog, hinein in die Straßen, die dadurch noch trauriger wirkten. Starr vor Kälte wartete Amaia vor der Backstube auf ihre Schwester Flora.
»Inspectora! Was für eine Ehre!«, begrüßte Flora sie spöttisch. »Solltest du nicht lieber den Mörder suchen?«
Amaia lächelte und deutete mit dem Finger auf sie.
»Genau das mache ich gerade.«
Flora, die bereits den Schlüssel in der Hand hatte, hielt, offensichtlich hellhörig geworden, inne.
»Hier? In Elizondo?«
»Ja, hier. Mörder stammen meistens aus dem Umfeld ihrer Opfer. Außerdem haben wir schon drei Fälle. Er muss also von hier stammen, von hier oder aus einem Nachbardorf.«
Amaia sah sich in der Backstube um, sog den Duft ein, der ihr aus ihrer Kindheit so vertraut war. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie ihren Vater sehen, in seinen weißen Hosen, seinem weißen Hemd und den Hosenträgern, wie er mit einer großen Stahlrolle Blätterteig ausrollte, und ihre Mutter, wie sie mit mehlbestäubten Händen die Zutaten in einem Messbecher abmaß. Als ihr Blick auf den Backtrog fiel, lief ihr ein Schauer über den Rücken, und es drehte sich ihr fast der Magen um. Dunkle Erinnerungen wurden wach, lähmten sie. Sie kniff die Augen fest zusammen, um sich dieses Ansturms zu erwehren.
»Was ist los?«, fragte Flora, die bemerkt hatte, dass mit ihrer Schwester etwas nicht stimmte.
»Ich muss an Vater und Mutter denken, wie glücklich sie waren, wenn sie hier gearbeitet haben«, log sie.
»Stimmt, die konnten anpacken, wenn es sein musste«, sagte Flora und wusch sich die Hände. »Allerdings waren sie zu zweit, während ich alles allein schaffen muss. Dabei ist die Arbeit nicht weniger geworden. Aber das ist dir egal, habe ich recht, Schwesterchen?«
»Ich weiß, dass du viel arbeiten musst, Flora, aber du musst genauer zuhören. Vater und Mutter waren glücklich dabei. Das war der Schlüssel für ihren Erfolg. Und es ist auch der Schlüssel für deinen.«
»Ach ja? Glaubst du wirklich, mir macht das hier Spaß?«, sagte sie und sah, während sie die Jalousien, hochzog, über die Schulter zu ihrer Schwester.
»Dir geht’s doch gut. Du hast Bücher geschrieben, kriegst eine Kochshow im Fernsehen, Mantecadas Salazar ist in ganz Europa ein Begriff. Und du bist wohlhabend. Nicht gerade der Inbegriff des Scheiterns.«
Flora war immer noch angespannt und musterte Amaia misstrauisch abwägend, ob ihre Bemerkung ironisch gemeint war.
»Hättest du nicht dein Herzblut reingesteckt, wärst du nicht so erfolgreich, davon bin ich überzeugt«, fuhr Amaia fort. »Du hast allen Grund, zufrieden zu sein. Und Zufriedenheit kommt Glück schon ziemlich nah.«
»Ja, mag sein«, gab Flora schließlich zu und zog die Augenbrauen hoch. »Aber bis ich erst mal so weit war.«
»Wir müssen alle unseren Weg gehen.«
»Ach ja«, empörte sich Flora. »Welchen
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