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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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rot-weiße Vespa! Du hast sie hier abgeholt, hier im Laden, und bevor ihr losgefahren seid, hat sie immer gesagt: Fahr vorsichtig und ja kein …« Sie hielt abrupt inne.
    »… Alkohol«, beendete Víctor den Satz. »Nach der Hochzeit hat sie darauf bestanden, dass ich das Motorrad verkaufe. Wie du siehst, habe ich mich nur an den ersten Teil gehalten.«
    »Víctor, ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
    »Keine Angst, Amaia, ich bin eben Alkoholiker, wie andere Diabetiker sind. Es hat lang genug gedauert, bis ich mir das eingestehen konnte, aber jetzt ist es ein Teil meines Lebens, und ich muss damit umgehen. Leider habe ich auf dem Weg zu dieser Erkenntnis deine Schwester verloren.«
    »Wie geht’s dir? Tante Engrasi meinte, du wohnst jetzt auf dem Bauernhof deiner Eltern.«
    »Gut. Meine Mutter hat mir eine Art Leibrente vermacht. Also restauriere ich jetzt Motorräder und gehe regelmäßig zu den Treffen der anonymen Alkoholiker in Irún. Kann mich nicht beklagen.«
    »Und was ist mit Flora?«
    »Na ja …« Er lächelte und sah zur Tür. »Du kennst sie ja. Alles wie gehabt.«
    »Aber …«
    »Wir sind nicht geschieden, Amaia. Sie will davon nichts wissen. Und ich auch nicht, wenn auch aus anderen Gründen.«
    Sie sah Víctor an. Sein blaues Hemd war frisch gebügelt, er war rasiert, roch leicht nach Kölnischwasser. So wie er da an seinem Motorrad lehnte, erinnerte er sie an den jungen Kerl, der er einmal gewesen war. Sie war sich sicher, dass er Flora immer noch liebte, dass er nie aufgehört hatte, sie zu lieben, trotz allem. Diese Gewissheit berührte sie zutiefst und nahm sie sehr für ihn ein.
    »Ich habe ihr das Leben nicht gerade leichtgemacht. Du kannst dir nicht vorstellen, was der Alkohol mit einem anrichtet.«
    Was eine böse Hexe mit einem anrichtet, hättest du besser sagen sollen, dachte Amaia. Trinken ist wahrscheinlich noch die harmloseste Art, es auszuhalten.
    »Warum fährst du nach Irún? Gibt er hier keine Gruppe?«
    »Doch, im Gemeindezentrum, donnerstags, glaube ich. Aber ich spiele hier lieber weiterhin den dorfbekannten Säufer.«
    FRÜHJAHR 1989
    Es war der hässlichste Schulranzen, den sie je gesehen hatte, dunkelgrün, mit braunen Schnallen, so einen hatte schon seit Jahren keiner mehr. Sie rührte ihn nicht an. Zum Glück war das Schuljahr bald zu Ende, sie würde ihn also erst im September benutzen müssen. Stumm starrte sie das schreckliche Ding an, das da auf dem Küchenstuhl stand. Dann hob sie unwillkürlich die Hand und fuhr sich durch die kurzen Haare, die ihre Tante ihr mehr schlecht als recht in Form geschnitten hatte. Tief im Inneren wusste sie, dass sowohl das Haareschneiden als auch dieser Schulranzen absichtliche Kränkungen waren. Tränen traten ihr in die Augen, die Tränen eines kleinen Mädchens, das an seinem Geburtstag tief enttäuscht wird. Ihre beiden Schwestern lugten mit großen Augen hinter den Tassen mit dampfender Milch hervor. Rosaura schluchzte manchmal still auf, weil ihre Mutter sie wieder geschimpft hatte.
    »Darf man wissen, was jetzt schon wieder los ist?«, fragte Rosario ungeduldig.
    Sie hätte vieles sagen wollen: dass es ein schreckliches Geschenk war, dass sie bis zuletzt auf die Jeanslatzhose gehofft hatte, dass sie so etwas nicht erwartet hatte. Manche Geschenke waren eine Beleidigung, eine Erniedrigung, dienten nur dazu, andere zu verletzen. An seinem neunten Geburtstag hatte ein Mädchen eine solche Lektion nicht verdient.
    »Gefällt er dir nicht?«, fragte ihre Mutter.
    Weil ihr kindlicher Kopf noch nicht ordnen konnte, was sie hätte sagen wollen, murmelte sie nur: »Das ist ein Jungsranzen.«
    Rosario grinste herablassend, wie immer, wenn sie etwas genoss.
    »Quatsch. Bei solchen Sachen gibt es keinen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen.«
    Amaia antwortete nicht, sondern drehte sich langsam um und ging zur Tür.
    »Wo willst du hin?«
    »Zur Tante Engrasi.«
    »Kommt nicht in Frage«, schimpfte ihre Mutter. »Für wen hältst du dich? Erst das Geschenk deiner Eltern verschmähen und dann zu deiner Tante gehen, um dich auszuheulen? Zu dieser Hexe? Möchtest du, dass sie dir die Zukunft liest? Willst du wissen, wann du auch so eine Latzhose kriegst wie deine Freundinnen? Schlag dir das aus dem Kopf! Wenn du schon nicht hier sein willst, dann hilf wenigstens deinem Vater in der Backstube.«
    Amaia ging weiter, wagte nicht, sich noch einmal umzudrehen.
    »Moment, erst bringst du noch dein Geschenk auf dein Zimmer.«
    Amaia ging

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