Das Echo dunkler Tage
hervor, auf dem ein blondes, lächelndes Baby zu sehen war. Amaia vermutete, dass er es gerade betrachtet hatte, als sie gekommen waren, und es dann instinktiv unter das Kissen gesteckt hatte. Sie warf einen Blick darauf und zeigte es dann Iriarte.
»Wunderschön«, flüsterte Iriarte und gab Annes Vater das Bild zurück, der es wieder unter das Kissen steckte.
»Sie war immer gut in der Schule, da können Sie alle ihre Lehrer fragen. Sie war intelligent, viel intelligenter als wir, und brav, hat uns nie Ärger gemacht, hat nicht getrunken oder geraucht wie die anderen Mädchen in ihrem Alter. Und einen Freund hatte sie auch nicht. Für so was hätte sie keine Zeit, hat sie immer gesagt.«
Er hielt inne, starrte auf seine Hände, blieb einige Sekunden lang so stehen, als wäre er bestohlen worden, als verstünde er nicht, wohin das, was er gerade noch im Arm gehalten hatte, plötzlich verschwunden war.
»Sie war die Tochter, die man sich als Eltern wünscht«, murmelte er wie zu sich selbst.
»Señor Arbizu«, unterbrach ihn Amaia. Er sah sie an, als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht. »Könnten wir uns mal das Zimmer Ihrer Tochter ansehen?«
»Natürlich.«
Sie gingen den Flur entlang, wo an beiden Wänden weitere Fotos von Anne hingen: von der Erstkommunion, von der Vorschule, als Cowboy verkleidet. Vor jedem Bild blieb der Vater stehen und erzählte eine Geschichte dazu. Dann gingen sie hinauf zu Annes Zimmer. Nach dem Besuch Jonans und der Kriminaltechniker war es etwas unordentlich. Amaia sah sich um. Rosa- und Lilatöne, klassisches Mädchenzimmer. Cremefarbene Möbel, gute Qualität. Daunendecke mit geblümtem Überzug, Blumenmotive auch auf den Vorhängen und Regalen, in den Fächern mehr Plüschtiere als Bücher. Sie trat näher. Mathematik, Schach, Astronomie, dazwischen Liebesschmöker. Überrascht sah sie Iriarte an, der ungefragt erwiderte:
»Steht alles in dem Bericht, inklusive Bücherliste.«
»Wie gesagt, Anne war hochintelligent«, wiederholte der Vater, der im Türrahmen stehen geblieben war. Ein Zittern um den Mund verriet, dass er mit den Tränen kämpfte.
Sie warf noch einen Blick in den Schrank. Nur Kleidung, die eine gute christliche Mutter einer Tochter im Teenageralter kaufen würde. Sie machte den Schrank wieder zu.
»Señor Arbizu, könnte es sein, dass Anne etwas vor Ihnen verheimlicht hat? Dass sie Geheimnisse hatte? Oder Freunde, von denen Sie nichts wissen?«
Der Vater schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, ausgeschlossen. Anne hat uns immer alles erzählt. Wir kannten all ihre Freunde, unser Verhältnis hätte besser nicht sein können.«
Annes Mutter wartete unten an der Treppe auf sie. Amaia vermutete, dass sie schon eine ganze Weile dort gesessen hatte. Sie trug einen braunen Männerbademantel, darunter einen blauen Männerpyjama.
»Amaia … Entschuldigung, Inspectora! Erinnern Sie sich noch an mich? Ich habe Ihre Mutter gekannt, meine ältere Schwester und sie waren Freundinnen.« Beim Sprechen verdrehte sie ihre Hände so stark, dass Amaia regelrecht auf sie starren musste, als wären es zwei verwundete Tiere, die vergeblich nach einem Unterschlupf suchen.
»Natürlich erinnere ich mich.« Amaia gab ihr die Hand.
Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, sank Annes Mutter vor Amaia auf die Knie und ergriff ihre Hände mit einer Kraft, die man dieser zerbrechlich wirkenden Frau nicht zugetraut hätte. Sie sah auf und flehte:
»Finden Sie das Monster, das meine Prinzessin umgebracht hat! Es darf nicht ungeschoren davonkommen.«
»Liebling, was machst du denn da?«, stöhnte ihr Mann und rannte die Treppe hinunter, um seiner Frau aufzuhelfen, doch Iriarte hatte ihr bereits unter die Achseln gegriffen und sie hochgezogen. Noch immer hielt sie Amaias Hände umklammert.
»Es war ein Mann, das weiß ich. Ich habe gesehen, wie die Männer meine Anne angestarrt haben, wie Wölfe, wie gierige Wölfe. Eine Mutter sieht so was. Nach ihr gelechzt haben sie, nach ihrem Körper, nach ihrem Gesicht, ihrem schönen Mund. Haben Sie die Fotos gesehen, Inspectora? Sie war ein Engel. So vollkommen, dass sie nicht von dieser Welt schien.«
Ihr Mann sah sie an und weinte still. Iriarte schluckte und atmete hörbar ein.
»Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem ich Mutter wurde, als ich sie zum ersten Mal in den Arm genommen habe. Ich konnte keine Kinder bekommen, die Föten starben einfach, schon in den ersten Schwangerschaftswochen, es kam immer ganz plötzlich
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